Das Forschungsprogramm „Organisationale Devianz Studien“ ist eingebettet in einen interdisziplinären Verbund von Soziologen, Kriminologen, Rechtswissenschaftlern, ergänzt durch die Medizin, die Sinologie sowie die Politik- und Wirtschaftswissenschaften unter Leitung von Professor Markus Pohlmann.
Das Heidelberger Forschungsteam geht in sektoren- und kulturvergleichender Perspektive der zentralen Frage nach, wie Organisationen von legalen Pfaden abkommen und wie sie gegebenenfalls wieder auf diese zurückfinden. Haben sich die beteiligten Akteure persönlich bereichert? Oder haben sie sich am Nutzen für die Organisation, für die eigene Reputation und Anerkennung orientiert?
Hintergrund
Diese Fragen haben seit den 1990er Jahren zunehmend an Relevanz gewonnen. So hat zum Beispiel die globale Finanzkrise gezeigt, wie leicht und oft Banken und Investmentfonds dazu tendieren, die legalen Pfade zu verlassen, wenn dies ihren Interessen dient. Aber auch Manipulationen und Bestechungen im Medizin- und Pharmabereich mach(t)en darauf aufmerksam, dass selbst stark regulierte Sektoren der Gesellschaft und öffentliche Einrichtungen davon nicht verschont bleiben. Die wiederholt aufgedeckten Rechtsverstöße zugunsten großer deutscher Industrieunternehmen – wie z.B. bei Siemens, MAN oder Thyssen-Krupp – zeigen, dass auch Vorreiter privatwirtschaftlicher Selbstregulation die Probleme nicht einfach durch den Erlass von immer mehr formalen Regeln und immer mehr Kontrolle in den Griff bekommen. Selbst der internationale Regulierungsboom seit den 2000er Jahren hat Korruption und Manipulationen nicht im Keim ersticken können. Das Gegenteil ist der Fall. Die Anzahl der Verfahren ist in Deutschland, den USA, China, Österreich und der Schweiz im langfristigen Trend weiter im Steigen begriffen.
Ziel des Forschungsprogramms
Um dies zu erklären ist es das Ziel des Forschungsprogramms, neben gesellschaftlichen Ursachen und institutionellen Bedingungsfaktoren auch den rechtlichen Konsequenzen nachzugehen und damit den Beitrag der Organisationssoziologie für kriminologische bzw. strafrechtliche Debatten in der internationalen Korruptionsforschung fruchtbar zu machen. Dabei liefert uns das organisationssoziologische Konzept der „organisationalen Devianz“ einen neuartigen Ansatzpunkt für die Erklärung einer bis dato unterbelichteten Form von Kriminalität, bei der es nicht ausschließlich um persönliche Bereicherung geht, sondern in erster Linie um die Verfolgung der Ziele der Organisation.
Forschungsdesign
Dazu werden Hellfeldanalysen von gerichtsnotorischen Fällen in Deutschland sowie im Ausland durchgeführt, systematisch ausgewertet und verglichen. Ebenso wird mit Deutungsmusteranalysen von Interviews mit Experten und Betroffenen aus Recht und Praxis verfahren (u.a. Organisationsfallstudien). Auf Basis experimenteller Forschungsmethoden sowie dem Einsatz der Vignetten-Technik in Online-Surveys und Telefonbefragungen wollen wir mehr über das Dunkelfeld organisationaler Devianz erfahren.
Mittels eines institutionentheoretischen Zugangs auf der Ebene der Organisation entwickeln wir ein interdisziplinäres Erklärungsmodell,
- das zum einen aus dem Sektorenvergleich von Wirtschaft, Medizin und Politik heraus weiterentwickelt werden soll, um zu erfassen, wie das Umfeld einer Organisation mit seinen je spezifischen Regulationsformen gegebenenfalls für besondere Anerkennungsformen devianter Handlungen im jeweiligen Umfeld sorgt.
- zum anderen untersuchen soll, welche Wirkung nationale Kulturen und Institutionenordnungen auf die Anerkennung organisationaler Kriminalität haben
- Weiterhin analysieren wir, ob und wie sich die in Deutschland, Brasilien und China viel diskutierte Einführung eines Unternehmensstrafrechts auf die Delegitimierung krimineller Aktivitäten in Organisationen sowie auf die Selbstregulationsformen, die zu ihnen führen, ausgewirkt hat. Neben dem Rückgriff auf den internationalen Rechtsvergleich und die Rechtstatsachenforschung soll auch aus rechtsdogmatischer Perspektive untersucht werden, ob es damit gelingen kann, diese Kriminalitätsform adäquat zu erfassen sowie geeignete Strafrechtsnormen zu institutionalisieren.
Forschungsprojekte
- Unter welchen Bedingungen verlassen Organisationen in Brasilien und Argentinien legale Pfade und wie lässt sich dies verhindern?
- Wenn Devianz zur Regel wird … – Untersuchungen zur Korruption in chinesischen Unternehmen
- Organisationale Kriminalität und funktionale Devianz – Zur Analyse einer Kriminalitätsform und ihrer Bekämpfung
- Der Kampf gegen Korruption und Manipulation
- Loyalität und Kriminalität in Organisationen
- Aktive Korruption in Unternehmen – Ursachen und Folgen “brauchbarer Illegalität”
- Globalization and Distribution Conflicts
Veranstaltungen
Sommer- und Wintersemester 2018: Ringvorlesung “Organisierte Regelverletzungen – Jenseits der Moral”
5.-7.10.2017: Herrenhausen Symposium: Bribery, Fraud, Cheating – How to Avoid Organizational Wrongdoing
8.-10.12.2016: International Conference: The Failures of Regulation and Self-Regulation
9.12.2016: Vortrag Sérgio Moro in der Alten Aula