Um die Wurst – Zur Normalität von Preisabsprachen in Deutschland

von Markus Pohlmann

Ob Würstchen, Teewurst oder Schinken, ob offen an der Wursttheke oder verpackt in der Kühltruhe, den Ermittlungen des Kartellamtes zufolge haben sich Wursthersteller in Deutschland seit Jahrzehnten abgesprochen, um höhere Preise zu erzielen. Im sogenannten Atlantikkreis [1] sollen sich nach Angaben des Bundeskartellamtes 22 Wursthersteller sowie 33 verantwortlich handelnde Personen jahrelang über ihre Preisforderungen bei Brühwurst und Schinken gegenüber dem Lebensmittelhandel abgestimmt haben. Das Bundeskartellamt war durch eine anonyme Anzeige auf die Absprachen aufmerksam geworden und führte am 22.07.2009 an insgesamt 19 Standorten Durchsuchungen durch.

Quelle: https://pixabay.com/de/w%C3%BCrstchen-fleisch-metzgerei-896439/

Bei zehn Unternehmen legte das Bundeskartellamt das Verfahren mittels einer Bonusregelung, die zu einer Strafreduktion im Falle der Mitwirkung bei der Aufklärung des Kartells führt, nieder. Drei Unternehmen halten derzeit ihren Einspruch beim Oberlandesgericht Düsseldorf aufrecht. Insgesamt verhängte die Wettbewerbsbehörde bereits Bußgelder in Höhe von 338,5 Millionen Euro. Den Verbrauchern wurde für ihre Wurst einfach zu viel Geld aus der Tasche gezogen.

Die sogenannte „Wurstlücke“, eine bis 2017 bestehende Haftungslücke im deutschen Kartellrecht, hat dennoch dazu geführt, dass im Rahmen des Wurstkartells Verfahren mit einem Bußgeldvolumen von rund 238 Millionen Euro eingestellt werden mussten. Die Konzerne hatten einfach die jeweiligen Tochterunternehmen geschlossen und eine neue Tochterfirma gegründet. Erst seit Juni 2017 ist dies nicht mehr möglich und mit der 9. Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen ist die „Wurstlücke“ endlich geschlossen.

Kartelle wie das „Wurstkartell“ sind derzeit allgegenwärtig. Bier, LKWs, Tapeten, Vitamine, Waschmittel, Reißverschlüsse, Zucker, Papier, Wasserhähne, Toilettenbürsten, Zement, Gummibärchen, Kartoffeln und viele mehr – die Reihe der aktuell aufgedeckten Kartelle in Deutschland und Europa ist lang. Aber wie lässt sich deren Häufigkeit erklären?

In einer soziologischen Perspektive haben wir es zunächst damit zu tun, dass Absprachen zur Erzielung eines Vorteils in der Wirtschaft alltäglich sind. Deswegen fällt eine Grenzüberschreitung den Unternehmen und ihren Managern leichter als bei Betrugsdelikten, die eine hohe kriminelle Energie erfordern. Auch ist der entstehende Schaden für die anonyme Masse von Kunden sehr abstrakt und für die nicht kartellierte Konkurrenz gewünscht. Als Form organisationaler Devianz wird diese „Ordnungswidrigkeit“ zum Nutzen der Unternehmen durchgeführt und ist nur selten mit illegaler persönlicher Bereicherung der „Kartelllisten“ verbunden. Im Rahmen der organisationalen Devianz sticht die lange zeitliche Dauer der Kartelle ins Auge. Bei den zehn aktuellen EU-Kartellverfahren mit den höchsten Strafzahlungen beträgt allein die gerichtlich behandelte Kartelldauer im Durchschnitt rund zehn Jahre. Ihre tatsächliche Dauer wird um einiges höher sein. Das heißt, Kartelle etablieren sich als eine feste und zeitlich andauernde Koordinationsform, die oft erst durch ihre Aufdeckung beendet wird.

Quelle: https://www.bund.net/fileadmin/user_upload_bund/publikationen/landwirtschaft/landwirtschaft_konzernatlas_2017_01.pdf, S. 44.

Die Institutionalisierung von Kartellen zeigt aber auch, dass Absprachen zur Kontrolle von Märkten nicht die Ausnahme, sondern die Regel im Kapitalismus sind. Denn dieser unterscheidet sich von der „reinen“ Marktwirtschaft auch dadurch, dass profitorientierte Unternehmen stets danach trachten, den Markt als unsichere Quelle der Verwertung abzuschaffen. Das koordinierte Handeln auf Märkten führt nachweislich zu höheren und sicheren Gewinnen. Kartellbildung ist daher eine stete Begleiterscheinung kapitalistischen Wirtschaftens, weswegen weltweit fast alle Staaten mit einer Anti-Kartellgesetzgebung reagiert haben. Auch in Deutschland ist deren Verschärfung feststellbar und lässt sich in den globalen Trend eines „Regulierungsbooms“ im Kampf gegen Unternehmenskriminalität einordnen. Die vom Bundeskartellamt verhängten Strafen wurden in den letzten Jahren immer höher. Mit 396 Millionen Euro führt die Zementindustrie die aktuelle Top 5-Liste der verhängten Strafzahlungen an, gefolgt von Wurst und Bier mit je rund 338 Millionen Euro, Zucker mit 280 Millionen Euro und Süßwaren mit rund 260 Millionen Euro. Das hört sich zunächst viel an, aber die Einzelstrafen – 5 Millionen für einen Konzern der Nahrungsmittelindustrie – haben offensichtlich nur moderate Abschreckungswirkung. Zwar liegt die Höchststrafe des Bußgeldes nach den Bußgeldleitlinien des Bundeskartellamtes bei 10 % des Konzernumsatzes im Geschäftsjahr vor der Behördenentscheidung und bei den verantwortlichen Führungskräften bei einer Million Euro. Aber gemessen an den über viele Jahre hinweg realisierten Gewinnen ist dies für Konzerne und Großunternehmen sowie deren Manager in der Regel einfach zu verkraften und die Kartellbildung ein nach wie vor lukratives Geschäft.

Für die verantwortlichen Führungskräfte sind die nach außen verschwiegenen, geheimen „Clubs“, in denen sie oder ihre Mitarbeiter sich bewegen, nicht selten ein selbstverständlich gewordener Teil ihres Geschäftsfeldes. Zwar ist ihnen klar, dass sie damit in Deutschland eine Ordnungswidrigkeit begehen, aber sie begehen diese in einem devianzanfälligen Umfeld – viele andere Manager in der jeweiligen Branche „tun“ es auch. Zu „schwarzen Schafen“ werden sie erst durch die Aufdeckung der Absprachen und nicht selten versucht dann auch das Unternehmen – wie im Falle der gescheiterten 291-Millionen-Euro-Klage von Thyssen-Krupp gegen einen Ex-Manager – die „schwarzen Schafe“ im großen Maßstab regresspflichtig zu machen.

Und was ist mit uns, den Verbrauchern? Wir schalten in der Regel bei der Inflation der Verfahren auf Durchzug. Ein nachhaltiger Imageschaden, der ins Kalkül der Unternehmen gezogen werden müsste, entsteht jedenfalls selten. Die Wurst bleibt also auf dem Brot oder eben das vegetarische Ersatzprodukt derselben, kartellrechtlich belangten Firma.

 

Quellen

Bundeskartellamt (2013): Leitlinien für die Bußgeldzumessung in Kartellordnungswidrigkeitenverfahren, zuletzt aufgerufen am 23.02.2018.

Bundeskartellamt (2017): Fallbericht: Wurstkartell, Az. B12-13/09 vom 01.09.2017, zuletzt aufgerufen am 23.02.2018.

Jungbluth, Armin (2017): Die 9. GWB-Novelle – Digitalisierung, Schließung der Wurstlücke, Kartellschadensersatz und anderes mehr…, in: Neue Zeitschrift für Kartellrecht, Bd. 5, Nr. 6, S. 257ff.

Spiegel Online (2014): Dreiste Preisabsprachen. Wurstkartell muss über 300 Millionen Euro Strafe zahlen, vom 15.07.2014, zuletzt aufgerufen am 23.02.2018.

Spiegel Online (2017): Kartellstrafe vermeiden: Wursthersteller schlüpfen erneut durch "Wurstlücke", vom 26.06.2017, zuletzt aufgerufen am 23.02.2018.

Süddeutsche Zeitung (2017): Wurstkartell vor dem OLG Düsseldorf. Würste ohne Ende vom 29.11.2017, zuletzt aufgerufen am 23.02.2018.

Wikipedia (o.J.): Liste der höchsten Strafen wegen Wettbewerbsverstößen in der EU, zuletzt aufgerufen am 23.02.2018.

Zeit Online (2017): Kartell. Was kann der Manager dafür?, vom 28.07.2017, zuletzt aufgerufen am 23.02.2018.

 

Fußnoten

[1] Benannt nach einem ihrer ersten Treffpunkte, dem Hamburger Hotel Atlantic Kempinski.

George Orwell in China – Digitalisierung als Mittel totaler sozialer Kontrolle

von Markus Pohlmann

Sozialistische Systeme haben traditioneller Weise die Verbesserung des Menschen auf dem Plan. Und jene, die sich nicht verbessern wollen oder können, werden eliminiert oder heutzutage: inhaftiert. China nutzt nun die Digitalisierung zur Erweiterung der sozialen Kontrolle  in bester Tradition sozialistischer Systeme. Derzeit wird in ca. 43 Städten bzw. Bezirken ein Punktesystem zur Bewertung des Sozialverhaltens eingeführt oder befindet sich in der Testphase. Wer alleine in einer großen Wohnung lebt, bekommt Punkteabzug. Gemeinsam mit vielen Bewohnern in einer kleinen Wohnung zu leben wird hingegen besser bewertet. Wer mit einem großen Importauto allein zur Arbeit fährt, sagen wir, mit einer Mercedes S-Klasse, bekommt weniger Punkte als jemand, der ein Leihfahrrad nutzt. Und das sind noch die harmlosen Beispiele. Wer zu viele Schulden anhäuft oder sie nicht zurückzahlt, kann in China nicht mehr den Schnellzug oder das Flugzeug nutzen. Nach Angaben des Obersten Gerichtshofes in China wurden 8,42 Millionen Schuldner[1] bis Ende September 2017 die Nutzung von Flugzeugen untersagt.[2] Aber auch dies ist nur die Spitze des Eisbergs.

Das “Sozialkredit-Punktesystem”

Die chinesische Regierung baut jetzt ein lückenloses „Sozialkredit-Punktesystem“ zur Belohnung und Bestrafung des Sozialverhaltens ihrer Bürger auf. Wer in einer Bewertung schlecht abschneidet, kann in allen Lebensbereichen eingeschränkt werden  “Lose credit somewhere, face restrictions everywhere.” George Orwell liegt im Trend in China. Der Begriff „Sozialkredit“ wurde bereits im Jahr 2003 von der chinesischen Regierung eingeführt. Nach zehn Jahren Diskussionen und Vorbereitungen veröffentlichte der chinesische Staatsrat im Jahr 2014 die Planung zum Aufbau des Sozialkredit-Systems. Den Aussagen eines verantwortlichen Regierungsbeamten der Verwaltungseinheit Xiong’an zufolge wird das Sozialkredit-System die Bürger in fünf Dimensionen bewerten: „Gesetzestreue, moralisches Wohlverhalten, soziales Engagement, Aktivitäten im öffentlichen Interesse und im Interesse des Umweltschutzes“.[3]

Quelle: In Anlehnung an http://www.cup.com.hk/2016/10/28/chinese-society-credit-system/ mit Hilfe von ClipArt von Mircosoft Office 2010 erstellt.

In der Jiangsu-Provinz, im Suining Kreis, leben mehr als eine Millionen Menschen. Jeder Bürger begann im Jahr 2010 mit einem Sozialkredit-Score von 1000 Punkten Kredit. Der Score bezieht sich auf insgesamt mehr als 400 Indikatoren, die zur Bewertung herangezogen werden. Wenn sich der sozialistische Bürger zum Beispiel um seine Eltern in einer Situation, die Fürsorge erfordert, nicht kümmert, bekommt er 50 Punkte abgezogen. Wer demonstriert, bekommt ebenfalls 50 Punkte abgezogen. Wer im Internet oder per SMS jemanden falsch bezichtigt, bekommt 100 Punkte abgezogen – eine Art Freibrief für die Funktionäre, die darüber entscheiden. Wenn der sozialistische Bürger allerdings einer älteren Dame über die Straße hilft, bekommt er 10 Pluspunkte. Wenn er eine staatliche Belobigung erhält, bekommt er weitere 100 Pluspunkte.[4] In der Provinz Shandong, in der kreisfreien Stadt Rongcheng, für die Daten zur Höhe der Punktezahl vorliegen, wurden die Bürger ab 2014 in die fünf Stufen A+, A, B, C und D eingeordnet. Die Bürger mit mehr als 1000 Punkten gehören zur Stufe A+. Sozialistische Bürger mit nur 600-849 Punkten werden in die Stufe C eingeordnet. Wer weniger als 599 Punkten hat, landet in Stufe D.[5]  Auf den Stufen A+ und A bewegen sich chinesische Bürger mit entsprechend vielen Freiheiten und Möglichkeiten, Bürger auf der Stufe C und D für den Zeitraum von zwei bzw. fünf Jahren mit zahlreichen gravierenden Einschränkungen. Sie können keine Darlehen mehr bekommen, haben große Probleme Wohnungen zu mieten oder zu kaufen und haben keinen Zugang zu guten Arbeitsplätzen oder ihre Kinder zu guten Schulen. All diese Zugänge und Möglichkeiten werden an die Punktezahl geknüpft. Auch zum Beispiel Unternehmer, die nur wenige Punkte vorweisen können, werden von Aufträgen ausgeschlossen. Willkommen in der totalen sozialen Kontrolle!

Aber natürlich öffnet das in China nur weiter Tür und Tor für „Gaming“. Wer also zum Beispiel weiterhin alleine beziehungsweise mit Chauffeur in der Mercedes S-Klasse zur Arbeit fahren möchte, lässt eben seine Angestellten bescheinigen, dass sie mitfahren. Oder wer alleine in einer großen Wohnung lebt, kann im Wohnregister einfach mehrere Mitbewohner angeben. So ist es eingeübte Praxis in China. Auch die Bewertungsregeln des Sozialkredit-Systems bilden nur einen weiteren Anlass, das System auszutricksen. Sicherlich ist auch Bestechung eine probate Möglichkeit, sein Punktekonto aufzubessern. Allerdings ist dieser Spielraum für die arme Bevölkerung, für Dissidenten oder systemkritische Personen, die ohnehin unter Dauerbeobachtung stehen, sehr gering.

Die Digitalisierung als Wegbereiter totaler sozialer Kontrolle

Der Wegbereiter für dieses System ist die Digitalisierung. Ein gutes Beispiel dafür ist Sesame Credit, ein Tochterunternehmen von der Alibaba Group. Sesame Credit ist eines von acht Unternehmen, das in die Pilotphase des Sozialkredit-Systems der Regierung eingebunden ist. Seine Nutzer werden bereits nach Personenmerkmalen (Qualifikation, Beruf, Einkommen etc.), ihrem Umgang mit Geld, ihrer Zuverlässigkeit im Warenhandel, den Verhaltensvorlieben und den persönlichen Netzwerken, in denen sie sich bewegen, elektronisch bewertet. Jeder der mehr als 100 Millionen Nutzer kann auf seinem Smartphone jederzeit seinen Score abrufen. Diese Bewertung hat zugleich einen starken gesellschaftlichen Einfluss, weil Sesame Credit mit diesen Informationen zahlreiche Kooperationspartner bedient. Dazu zählt zum Beispiel Chinas größte Online-Partnervermittlung, Baihe, bei der Partnersuchende bereits mit ihrem Punktestand für sich werben können.[6] Es ist sowohl ein Belohnungs- als auch ein Bestrafungssystem. Um einen „besseren“ Partner zu finden, muss der chinesische Bürger sein Verhalten und seine Netzwerke darauf einstellen. Es ist jetzt bereits ein weiteres Statussymbol, das die Bildung möglichst statushomogener Netzwerke und die wechselseitige soziale Kontrolle ermöglicht.

Nach der Planung des chinesischen Staatsrates wird das „Sozialkredit-Punktesystem“ ab 2020 in China landesweit eingeführt. Es soll das derzeit vorhandene System schwarzer bzw. roter Listen ersetzen. Im Falle Chinas zeigt sich damit, dass das Internet weder ein Medium ist, das sich der politischen Kontrolle entzieht, noch, dass eine digitalisierte Diktatur bloße Schwarzmalerei oder Zukunftsmusik ist. In einer soziologischen Perspektive sind diese politischen Erziehungsversuche nichts Neues, nur die Art ihrer Umsetzung auf einer veränderten informationstechnologischen Basis. Auch sie werden aller Voraussicht nach, wie alle bisherigen großangelegten politischen Erziehungsversuche, früher oder später an den gesellschaftlichen Eigendynamiken und individuellen Eigenheiten im Umgang mit Erziehung zerschellen. Die Frage ist nur, wie hoch der Preis dafür ist, den Millionen von Menschen bis dahin zahlen müssen.

Ab 2020 jedenfalls müssen die chinesischen Staatsbürger wahrscheinlich verstärkt an den Darstellungsformen ihrer sozialistischen Bürgerlichkeit sowie am illegalen Punkteerwerb arbeiten, um die soziale Kontrolle zu dem werden zu lassen, was sie in der Planwirtschaft immer schon war: zu einem artifiziellen, gleichwohl politisch riskanten Spiel mit Zahlen und Punkten.

 

Quellen

Böff, Melanie (2017): Totale Kontrolle. China testet soziales Punktesystem, zuletzt aufgerufen am 09.02.2018.

China Copyright and Media (2014): Planning Outline for the Construction of a Social Credit System (2014-2020), zuletzt aufgerufen am 09.02.2018.

Ohlberg, Mareike et al. (2017): Central Planning, Local Experiments. The Complex Implementation of China’s Social Credit System, MERICS Mercator Institute for China Studies, zuletzt aufgerufen am 09.02.2018.

 

Fußnoten

[1] Die Anzahl von 8,42 Millionen bezieht sich nicht auf einzelne Individuen, sondern es ist möglich, dass einzelne Schuldner mehrmals beschränkt wurden.

[2] https://www.weibo.com/ttarticle/p/show?id=2309351003164165250701253838 [in chinesischer Sprache], zuletzt aufgerufen am 09.02.2018.

[3] FAZ vom 22.11.2017: Nationales Punktesystem. China plant die totale Überwachung, zuletzt aufgerufen am 09.02.2018.

[4] http://js.people.com.cn/n/2014/0620/c360300-21473226.html [in chinesischer Sprache], zuletzt aufgerufen am 09.02.2018.

[5] http://www.wenming.cn/lianmeng/lmwz/201403/t20140320_1817062.shtml [in chinesischer Sprache], zuletzt aufgerufen am 09.02.2018.

[6] Lenz, Herbert (2017): Zur Hölle mit uns Menschen: Warum wir mehr Verbote und ein neues Denken brauchen. Komplett-Media.

Honig

von Markus Pohlmann

Stefanie G. ist am Flughafen in Chicago, kurz vor dem geplanten Rückflug nach Deutschland, als sie verhaftet wird. Mitarbeiter der amerikanischen Einwanderungs- und Zollbehörde legen ihr Handschellen an. Die Homeland Security nimmt sie mit zum Gericht. Sie und ihr Kollege werden beschuldigt, die USA um Zölle betrogen zu haben. Der Vorwurf: Durch ihren Arbeitgeber, die deutsche Handelsfirma Alfred L. Wolff, soll unter Umgehung der Anti-Dumping-Maßnahmen chinesischer Honig über Drittländer in die Vereinigten Staaten importiert worden sein. Ihre Zusammenarbeit mit den Lieferanten, die als der „Malaysier“, der „Russe“ oder der „Koreaner“ bezeichnet wurden, erwies sich als Zusammenarbeit mit ein und derselben Person: ein Zulieferer aus China, der in jedem Land Scheinfirmen aufgebaut und diese nach der Aufdeckung geschlossen hatte. Zugleich wurde in einem Container Honig entdeckt, der positiv auf ein Breitbandantibiotikum getestet wurde. Die Firma hatte trotz des Wissens darum, den Honig zu Discountpreise weiterverkauft. Stefanie G. war bereits früh klar geworden, dass an dem Importhandel etwas faul war, doch sie hatte – wie alle anderen – geschwiegen.

Honighungrig

Quelle: Pixabay

Nicht nur die USA sind honighungrig, auch Deutschland gehört zu den großen Honigverbrauchern in Europa. Honig ist im engeren Sinne zwar ein Naturprodukt, aber nicht das gesunde Lebensmittel, als das es firmiert. Der Honig hat zwar auf natürliche Weise eine antibiotische Wirkung (vgl. Horn 2013, Namias 2004, Wahdan 1998), wird aber im Körper wie Zucker aufgenommen. Er hat in seinen negativen Auswirkungen nach verschiedenen neueren Studien (vgl. Moore et al. 2012, Raatz et al. 2015, Rasad et al. 2014) kaum Unterschiede zu diesem. Trotzdem liegt der Pro-Kopf-Verbrauch in Deutschland pro Jahr bei rund einem Kilogramm Honig. Immer wieder haben Imker aber Schwierigkeiten aufgrund von Krankheiten der Bienen oder plötzlichem Kollaps des Bienenvolkes die Produktion ihres Honigs auf hohem Niveau zu halten – und den Dumping-Preisen aus China sind sie ohnehin nicht gewachsen. Imkerei ist daher oft zu einem Nebenerwerb oder einem Hobby geworden und der deutsche Imkerbund spricht 2016 von durchschnittlich rund 7 Völker pro Imker.

Es ist klar, dass damit deutsche Imker kaum mehr konkurrenzfähig sind. So geht es auch den Imkern aus anderen Ländern. Aufgrund dessen haben die amerikanischen Imker bereits zweimal scharfe Anti-Dumping-Maßnahmen durchgesetzt. Diese Maßnahmen werden jedoch durch den Verschiebebahnhof über Drittländer von chinesischen Produzenten regelmäßig unterlaufen. Seit vielen Jahren ist erkennbar, dass weltweit mehr Honig verkauft wird als von den Bienen der Imker produziert werden kann. Und dies zu gleichbleibend günstigen Preisen. Zwar ist auch die Produktion der Imker weltweit gestiegen, aber viel langsamer als der Konsum von Honig. Damit wird klar, hier geht nicht alles mit rechten Dingen zu.

Nahrungsmittelbetrug, Zollbetrug und Dumping

So gehört Honig seit 1980 zu den globalen Top 10 der gestreckten und gepanschten Nahrungsmittel. Länger fällt schon auf, dass der Wettlauf zwischen den Kontrolleuren und den Panschern – wie auch im Doping – die Grenze immer weiter verschiebt. Für gewöhnlich wird der Honig mit dem ungleich billigeren Reissirup oder anderen Zuckersirupmischungen gestreckt.

Quelle: Euractiv

Durch die ultrafeinen Pollenfilter, die in der Honigproduktion zur Anwendung kommen, ist der industriell gepanschte Honig aber nicht mehr einfach durch die fehlenden Pollen vom legal gefertigten Honig zu unterscheiden. Daher wächst die Dunkelziffer stetig. In Deutschland ist dabei weniger der Imkerhonig im Discounter das Problem, sondern die vermeintlich gesünderen Honigzusätze in der industriellen Nahrungsmittelproduktion, zum Beispiel bei Lebensmitteln speziell für Kinder. Die EU kam in Stichprobenprüfungen auf eine Quote von immerhin 14 % der Honigproben, die mit Zuckerzusätzen gestreckt waren. Und das ist nur die Spitze des Eisberges.

Nahrungsmittelbetrug, Zollbetrug und Dumping sind bei Honig, wie bei vielen anderen Lebensmitteln auch, Bestandteil einer globalen Wertschöpfungskette. Sie speist sich aus den paradoxen Erwartungen der Kunden an ein dauerhaft günstiges und qualitativ gleichbleibendes Naturprodukt, aus den industriellen Organisationsformen der globalen Nahrungsmittelproduktion sowie aus der gezielten Preiskonkurrenz durch die strategischen Allianzen von Großproduzenten, beispielsweise in China. 50 % des importierten Honigs der EU kommt mittlerweile aus China. Obwohl dort die Zahl der Bienenvölker zwischen 2000 und 2014 nur um 21 % gewachsen ist, stieg die gesamte Produktion um 88 %.

Der Handel mit Honig – eine deviante Branche

In der EU gibt es so gut wie keine institutionelle Gegenwehr mehr. Zwar war in der EU der Import aus China zwischen 2002 und 2004 verboten, aufgrund der stetig steigenden Nachfrage wurde das Verbot aber wieder aufgehoben. Die EU Honig-Direktive hat nun sehr niedrigschwellige Deklarierungsanforderungen und Qualitätsstandards, sodass der EU-Markt bis heute einfach von minderwertigen Honigprodukten geflutet werden kann. Auch in Deutschland gibt es eine, im Jahr 2004 aktualisierte Honigverordnung im Lebensmittelrecht, aber Verstöße gegen sie werden kaum geahndet oder treffen kleine Imker. Wir haben damit keine defekten Institutionen am Werk, sondern Institutionen, die Tür und Tor für qualitativ minderwertigen oder gar gestreckten Honig öffnen.

Und die Firmen spielen mit und profitieren davon. Als Stefanie G. mit ihren Vorgesetzten über die Umgehung der Anti-Dumping-Maßnahmen spricht, verweist er auf die gängige Praxis beim Import von Honig. Das deviante Umfeld einer Branche, das durch die Abwesenheit effektiver Regulierungen entstanden ist, wird zu einem organisationsüblichen Argument für die Begründung von Regelabweichungen. „Die Anderen tun es auch“. Stefanie G. fügt sich und zeichnet die nur scheinbar korrekten Deals ab. Für die US-Behörden wird sie damit Teil einer Verschwörung mit betrügerischer Absicht. Bald schon nach der Aufdeckung lässt die Firma Stefanie G. und ihren Kollegen fallen. Das Büro in Chicago wird wenige Monate nach der Verhaftung geschlossen. Doch die US-Behörden setzen sieben Manager aus der Hamburger Zentrale auf die Fahndungsliste von Interpol.

Die für organisationale Devianz typische Loyalität und Bereitschaft, auch ohne persönliche Vorteile zum Nutzen der Organisation mitzumachen, wird aber ausschließlich Stefanie G. und ihrem Kollegen zum Verhängnis. Nach ihrer Verhaftung am Flughafen sitzt sie drei Wochen in U-Haft, wird dann vier Jahre bis zum Abschluss der Ermittlungen und zum Gerichtstermin mit einer Fußfessel in den USA festgehalten. Am 5. Oktober 2012 wird Stefanie G. zu einem Jahr und einem Tag Haftstrafe verurteilt, wovon sie den größten Teil absitzen muss. Ihr Kollege bekommt eine Bewährungsstrafe. Die Firma verschwindet 2010 vom Markt und die Eigentümerfamilie ruft eine Neugründung ins Leben. Ein geschickter Schachzug, da nun alle Ansprüche an eine Firma gerichtet werden müssen, die es nicht mehr gibt. Der Honig bleibt so auf der Strecke – gestreckt, gepanscht und von „gleichbleibender“ Qualität für uns und die Kinder.

 

Quellen

Aizen, Marcelo A., und Lawrence D. Harder (2009): The Global Stock of Domesticated Honey Bees Is Growing Slower Than Agricultural Demand for Pollination, in: Current Biology, Vol. 19, No. 11, p. 915-918.

Aries, Eric, et al. (2016): JRC Technical Report, Scientific support to the implementation of a Coordinated Control Plan with a view to establishing the prevalence of fraudulent practices in the marketing of honey, Belgien: Europäische Union.

Capital (2017): Die Honigfalle, verfasst von Jens Brambusch, zuletzt aufgerufen am 26.01.2018.

Euractiv (2017): Honeygate: How Europe is being flooded with fake honey, verfasst von Paola Tamma, zuletzt aufgerufen am 26.01.2018.

Giesselbach, Stefanie (2017): Meine abgeschminkten Jahre. Wie ich im amerikanischen Frauenknast landete, München/Berlin: Piper Verlag GmbH.

Horn, Helmut (2013): Honig in der Medizin, in: DMW-Deutsche Medizinische Wochenschrift, Vol. 138, No. 51/52, p. 2647-2652.

Moore, Jeffrey C., John Spink, und Markus Lipp (2012): Development and application of a database of food ingredient fraud and economically motivated adulteration from 1980 to 2010, in: Journal of Food Science, Vol.  77, No. 4, p. 118-126.

Namias, Nicholas (2004): Honey in the Management of Infections, in: Surgical Infections, Vol. 4, No. 2, p. 219-226.

NDR (2015): Wie gut ist günstiger Honig?, verfasst von Saskia Engels, zuletzt aufgerufen am 26.01.2018.

Raatz, Susan K., LuAnn K. Johnson, und Matthew J. Picklo (2015): Consumption of Honey, Sucrose, and High-Fructose Corn Syrup Produces Similar Metabolic Effects in Glucose-Tolerant and -Intolerant Individuals, in: The Journal of Nutrition, Vol. 145, No. 10, p. 2265-2272.

Rasad, Hamid, et al. (2014): The Effect of Honey Consumption Compared with Sucrose on Blood Pressure and Fasting Blood Glucose in Healthy Young Subjects, in: Global Journal of Medicine Researches and Studies, Vol. 1, No. 4, p. 117-121.

Wahdan, H. A. L. (1998): Causes of the Antimicrobial Activity of Honey, in: Infection, Vol. 26, No. 1, p. 26-31.

Slow Justice Is NO Justice! — Das Problem der dysfunktionalen Justiz in Argentinien

Von Friederike Elias

Quelle: Pixabay

11,4 Jahre. Das sind 137 Monate, 592 Wochen oder 4161 Tage. So lange dauert durchschnittlich ein Korruptionsprozess in Argentinien. Nicht selten enden diese Verfahren mit einer Verjährung. Das bedeutet faktisch Straflosigkeit in Fällen, in denen es um viel Geld geht und häufig wohlhabende Vertreter der argentinischen Elite auf der Anklagebank sitzen. Verfahren zu alltäglichen Straftaten hingegen werden schnell abgeurteilt. Während sich Europa und die USA mit der Frage auseinandersetzen, wie Korruption durch mehr Transparenz verhindert werden kann, ist das Problem in Argentinien ein grundsätzlicheres. Die Frage, die sich in diesem Kontext stellt ist, was kann man dagegen tun, dass Delikte im Bereich der Wirtschaftskriminalität nicht bestraft werden?

Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive kommen dabei unterschiedliche Ansatzpunkte in Betracht:

Aus politikwissenschaftlicher Sicht zeigen sich hier die Nachteile des Präsidentialismus: Die Justiz ist nicht unabhängig von der Politik. Die Richter arbeiten als Teil der politischen Klasse, da jeder Präsident seinen eigenen Gerichtshof aufbaut und eigene Richter im Supreme Court ernennt. Die Richter haben keine festen Positionen und versuchen daher ihre Position und Karriere dadurch abzusichern, indem sie die Regierung nicht angreifen. Fälle, in die die Regierung verstrickt ist, werden erst verhandelt, wenn die Präsidentschaft gewechselt hat (ein Beispiel dafür ist der Fall José López, Ex-Staatssekretär der Regierungen Kirchner, der erst nach dem Regierungswechsel in Argentinien Fahrt aufnahm). Persönliche Interessen der Richter geraten mit der strikten Anwendung von Recht und Gesetz in Konflikt.

Aus elitesoziologischer Perspektive könnte argumentiert werden, dass die Teileliten aufgrund ihrer gemeinsamen Herkunft, ihren gemeinsamen Bildungswegen und ihrer gemeinsamen sozialen Verkehrskreise kooperieren: Richter, Staatsanwälte und Anwälte aber auch die Angeklagten stammen mehrheitlich aus alteingesessenen Oberschichtfamilien, kennen sich bereits seit Universitätszeiten, sind Mitglieder in denselben Clubs und üben die gleichen Sportarten aus. Sie sind Teil derselben sozialen Schicht und begegnen sich häufig im Beruf wie im Privatleben. Auf dieser Sozialstruktur zurückführbare Verzögerungsstrategien können auf allen Stufen des Verfahrens und ausgehend von allen Beteiligten beobachtet werden.

Die Staatsanwälte halten sich üblicherweise nur an zeitliche Vorgaben hinsichtlich der Eröffnung eines Prozesses – hier sind 24 Stunden vorgesehen -, wenn Personen in Untersuchungshaft genommen wurden. Anfragen an die Polizei, an andere Richter und an Anwälte erfolgen üblicherweise sehr förmlich über schriftliche Anfragen und Telegramme anstatt mittels persönlicher Konversation, über Fax oder per E-Mail. Häufig wird verlangt, die Anschuldigungen in Form einer eidesstaatlichen Erklärung abzugeben, bevor das Verfahren eröffnet wird. So kann es passieren, dass die Eröffnung des Verfahrens bereits mehrere Monate in Anspruch nimmt. Diese Zeit dient unterschiedlichen Strategien, insbesondere um mit relevanten Personen sprechen zu können oder abzuwarten, dass der Fall auf den Titelseiten der Zeitungen landet.

Quelle: Pixabay

Auch im ersten, schriftlichen Teil des Prozesses, dem sogenannten Eröffnungsverfahren, wird von Richtern und Staatsanwälten stark an Formalismen festgehalten und die Untersuchungen erfolgen umfangreicher als eigentlich nötig wäre. In dieser Prozessphase finden die meisten Verzögerungen statt und hier liegt der Hauptgrund, warum die Fälle häufig gar nicht bis zur mündlichen Verhandlung gelangen. Im Fall López benötigte der zuständige Richter beispielsweise 8 Jahre um die Unterlagen zusammenzutragen. Hier hatte der zuständige Richter Maßnahmen ergriffen, um den Fall offen zu halten, ihn aber keiner Untersuchung zuzuführen.

Weiterhin geben die Anwälte ihren Klienten, die als Zeugen befragt werden sollen, üblicherweise den Rat, den durch das Gericht gesetzten Termin nicht wahrzunehmen. Stattdessen fragen die Anwälte bei den Gerichten an, warum ihre Klienten befragt werden sollen und stimmen ein neues Datum für die Aussage ab. Im Zuge dieses Vorgehen kommt es häufig zu einer „verhandelten Untersuchung“, in der die Grenzen und der Umfang der Untersuchung, die Zeugen und Beweise vorab mündlich abgesprochen werden, bevor die Untersuchungsergebnisse schriftlich fixiert werden.

Mit einem organisationssoziologischen Zugang könnte eine überlastete und dysfunktionale Bürokratie und daraus resultierende ungeschriebene Regeln der Fallbearbeitung angeführt werden. Die Untersuchungen zu den Korruptionsfällen wird in der Cámara Nacional en lo Criminal y Correccional Federal von 12 Richter und 12 Staatsanwälte geleitet. Jede dieser Personen verfügt über ein Sekretariat, in dem die Gerichtsakten geführt werden. Die Richter arbeiten selbst nur an den wichtigsten Fällen, das sind insbesondere solche Fälle, in denen es zu sozialen Katastrophen kam oder prominente Persönlichkeiten involviert waren. Eigentlich haben die Richter die Aufgabe, die Untersuchung zu leiten, während die Staatsanwälte darauf achten sollten, dass die Richter dabei Recht und Gesetz einhalten. Faktisch ist es jedoch so, dass die Staatsanwälte die Untersuchung leiten, während sie die Richter um die Anordnung konkreter Maßnahmen, wie Abhörmaßnahmen oder Hausdurchsuchungen, bitten müssen. Mitarbeiter der Sekretariate planen die Untersuchung, führen die Zeugenbefragung durch und entwerfen die Plädoyers der Staatsanwälte oder die Urteile für die Richter. Durch die Mitarbeit von unterschiedlichen Personen- und Mitarbeiterkreisen, kommt es auch in ähnlich gelagerten Fällen zu unterschiedlichen Urteilen.

Aus kriminalsoziologischer Sicht lässt sich schließlich anmerken, dass die Mischung der Aufgaben, mit denen die Richter der Cámara Nacional en lo Criminal y Correccional Federal betraut sind, sich ungünstig auswirkt. Diese Richter sind für alle Fälle zuständig, bei denen es um Menschenhandel, Drogen- und Wirtschaftskriminalität auf Bundesebene geht. Wenn es in Fällen konkrete Opfer gibt, lastet die öffentliche Aufmerksamkeit stärker auf diesen Fällen, weshalb diese prioritär behandelt werden. Dazu zählen auch die Verbrechen der argentinischen Militärdiktatur, die die Justiz nach wie vor stark beschäftigen. Demgegenüber sind die Opfer bei Korruptionsfällen eher abstrakt. Es entsteht ein gesellschaftlicher Schaden, der aber nicht ohne weiteres individuell zurechenbar ist.

Wer diesen Sachverhalt allerdings dem gesellschaftlich-sozialen Entwicklungsstand zurechnen will, der sollte vorsichtig sein. Auch Deutschland kämpft mit ähnlichen Problemen. Die Prozesse um Delikte der Wirtschaftskriminalität dauern ebenfalls übermäßig lang, wie beispielsweise der Prozess gegen Georg Funke, den ehemaligen Chef der Skandalbank Hypo Real Estate (HRE) zeigt. Der Prozess wurde Ende vergangenen Jahres mit einer Geldstrafe abgeschlossen, weil die Beweise nicht schnell genug aufgenommen wurden und Verjährung drohte. Auch hier wird auf ähnliche Probleme verwiesen wie in Argentinien: Überlastete Richter und Staatsanwälte, fehlendes Personal und Verzögerungsstrategien und bessere finanzielle Ausstattung der Verteidigung. So haben Argentinien und Deutschland doch mehr gemeinsam, als man auf den ersten Blick meint.

 

Quellen

Delgado, Federico, Catalina De Elía (2016): La cara injusta de la justicia. Por qué la justicia argentina es su propia enemiga, Ediciones Paidós.

FAZ (2017): Überforderte Justiz. Kommen Manager vor Gericht besser weg?, zuletzt aufgerufen am 12.01.2018.

FAZ (2017): Georg Funke: Prozess gegen ehemaligen HRE-Chef eingestellt, zuletzt aufgerufen am 12.01.2018.

Observatorio de Causas de Corrupción (oJ): Qué es Comodoro Py, zuletzt aufgerufen am 12.01.2018.

Oficina de Coordinación y Seguimiento en materia de Delitos contra la Administración Pública (OCDAP), Ascociación Civil por la Igualdad y la Justicia (ACIJ), Centro de Investigación y Prevención de la Criminalidad Económica (CIPCE) (2012): Los procesos judiciales en la materia de corrupción. Los tiempos de proceso. Estado de situación, zuletzt aufgerufen am 12.01.2018.

Auf der Suche nach der verlorenen Integrität? „Integrity Management“ und Compliance

Von Markus Pohlmann

Der Begriff der Integrität hat eine steile Karriere hinter sich. Er hat es heute sogar bis in die Vorstandsressorts von Großunternehmen geschafft. Sowohl bei der Daimler AG als auch bei der Volkswagen AG gibt es Vorstandspositionen für „Integrität und Recht“. „Compliance“ war gestern, so scheint es, heute ist in den Unternehmen Integrität gefragt. Auf google scholar erhält man zum Suchbegriff „integrity management“ über 14.000 Einträge, über 13.000 davon allein seit dem Jahr 2000 – und die meisten sind nicht auf die gleichlautende informationstechnologische Problematik bezogen.

Quelle: Integrity – Nick Youngson – Creative Commons 3 – CC BY-SA 3.0

Darin spiegelt sich ein praxisbezogener Beratungsdiskurs und eine neue Managementmode. Es scheint so, als strebten Unternehmen nun nicht mehr nur nach der Einhaltung von Regeln, sondern auch nach moralischer Vervollkommnung. Und dies nicht nur zur Weihnachtszeit.

“Integrity Management” und/oder Compliance

Es wird in diesem Diskurs unterschieden zwischen einer „Regelbefolgung“ („Compliance“), die durch Kontrollen und Strafen erreicht wird, und dem Management von „Integrität“, welches auf die Verinnerlichung von Werten und Normen abzielt. Dabei würden, so Paine 1994, die moralischen Kompetenzen der Mitarbeiter erweitert. Die Mitarbeiter sollen in die Lage versetzt werden, bei kniffligen und fragwürdigen Situationen, die durch den Regelkatalog der Compliance-Maßnahmen nicht abgedeckt sind, auf Basis eigenständiger Werturteile ethisch korrekt zu entscheiden. Integritätsmanagement hat damit in der Unternehmenswelt die Nachfolge des Wertemanagements angetreten, ohne auf die bereits mit dieser Managementmode verbundenen Probleme zu reagieren.

„Integritas“ spielt in der Wortbedeutung auf Unversehrtheit, Reinheit und Redlichkeit an und meint, in Wort und Tat zu seinen Werten und Normen zu stehen, sich also nicht korrumpieren zu lassen. Für die Unternehmen dreht es sich dabei um die Herstellung eines innengeleiteten Mitarbeiters und einer Kultur, die ihn fördert und hervorbringt. Das Regelwerk des Unternehmens soll durch die Verinnerlichung der dahinterstehenden Werte und Normen vervollständigt werden. Dieser Wunsch der Unternehmen hat es in sich. In einer soziologischen Perspektive überrascht diese neue Bezugnahme auf das ethisch anspruchsvolle Konzept der Integrität aus mehreren Gründen:

Eine soziologische Betrachtung des Konzepts der Integrität

Quelle: Creativ Commons – CC-by-sa 3.0/de – Daetz-Stiftung_Erwachsenenbildung https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/legalcode

(1) Hinter dieser Managementmode steht einmal mehr die Vorstellung, dass innere Zustände von Mitarbeitern gezielt herbeigeführt werden können. Sie scheint sich hartnäckig zu halten oder für die Selbstinszenierung der Unternehmen nützlich zu sein. Und sie scheint gegen Widerlegungen immun zu sein. Denn in der Praxis zeigt sich immer wieder, dass wertbezogene Erziehungsversuche oft ignoriert werden oder Reaktanz auslösen, also zu gegenteiligen Effekten führen. Die Vermittlung einer guten Absicht ist in einer soziologischen Perspektive von dem zu unterscheiden, was qua Sozialisation in den Unternehmen absichtslos gelernt wird. Dazu gehört z.B. das Wissen darum, wie formale Regeln und Erziehungsversuche erfolgreich umgangen werden können. Das Problem ist also keines der „Erziehung“ durch das Management, sondern eines der Sozialisation in den Unternehmen.

(2) Dabei wird auch vergessen, dass der Zugriff auf das Personal seine Grenzen hat und es wird implizit unterstellt, dass dieses selbsttätig zur Entwicklung von Integrität nicht in der Lage ist. Wie auch bei der in der Managementliteratur immer wieder geäußerten Vorstellung, das „Personal zum Glück zu führen“, wird versucht, die Mitarbeiter in ihren persönlichen Wertbezügen zu vereinnahmen, ohne darin eine Grenzüberschreitung zu sehen (vgl. hierzu Pohlmann et al. 2017). Die beabsichtigte moralische Vervollkommnung des Personals führt aber weit über den begrenzten Einbezug der Person, über eine instrumentelle Nutzung ihrer Arbeitskraft, welche Raum lässt für ganz andere Werte und moralische Grundhaltungen, hinaus.

(3) Mit dem Thema Integrität rücken in den Präventionsmaßnahmen der Unternehmen die zu erziehenden Mitarbeiter einmal mehr in den Mittelpunkt. Hier steht wieder, auch wenn die Unternehmenskultur gerne herbeizitiert wird, Verhaltensprävention im Vordergrund – und nicht Verhältnisprävention. Die Vorstellung dabei ist: Wenn wir die Mitarbeiter moralisch vervollkommnen, werden wir der Regelabweichungen Herr. Die doch eher enttäuschenden Erfahrungen der großangelegten Versuche von Kirche, Sozialismus oder Humanismus damit werden beharrlich ignoriert. Die Konstellationen in den Unternehmen selbst, wie z.B die insiderdominierten Karrieresysteme, die entgrenzten Arbeitszeiten der Führungskräfte, die outputorientierten Kennzahlensysteme etc., die häufiger der Grund für Regelabweichungen sind, geraten dadurch weitgehend aus dem Blickfeld.

(4) Zu guter Letzt: Alle, die in Unternehmen, Krankenhäusern, Universitäten etc. arbeiten, wissen, dass Integrität eine knappe Ressource ist. Denn Organisationen können sie gar nicht gebrauchen. Sie arbeiten vielmehr immer wieder daran, die Konformität ihres Personals mit wechselnden Zielen, Werten und Normen sicherzustellen. Denn auch die gesellschaftlichen Moralstandards und Gesetze ändern sich mit dem Zeitgeist. Um damit umzugehen, ist Anpassungsfähigkeit und Opportunismus eine wichtige Ressource. Moral ist wetterwendisch, Integrität ist es nicht. Und welche Moralstandards sollen denn angelegt werden? Geschäftsmodelle von Unternehmen, die den teils widersprüchlichen, kulturell je verschiedenen und inkonsistenten gesellschaftlichen Moralstandards vollständig entsprechen, wird es selten geben. Kann man also als integrer Mitarbeiter noch bei VW, Audi und Co. arbeiten, die weiterhin nicht genug gegen die Verschmutzung der Umwelt tun? Können wir für Schokolade-, Tabak- oder Lederproduzenten arbeiten, wenn wir wissen, dass nach wie vor Kinderarbeit im Spiel ist? Integrität ernst zunehmen würde zu moralischen Stolpersteinen führen, die kein Unternehmen und keine Organisation gebrauchen kann.

Doch lieber Compliance?

Quelle: Compliance CC BY-SA 3.0 Nick Youngson

Dennoch: Die Orientierung an gesellschaftlichen Normen ist wichtig. Je mehr sie, durch den regulierenden demokratischen Staat mit seinen Gesetzen und Vorschriften und mittels der Dauerbeobachtung durch zivilgesellschaftliche Akteure, ins Kalkül des Wirtschaftens gezogen werden, umso besser. Das moralisierende Unternehmen kann keiner wollen (vgl. hierzu Pohlmann 2008). Wer will beispielsweise, dass sich Unternehmen ihre Mitarbeiter nach gerade geltenden Regeln der gesellschaftlichen Achtung oder Missachtung aussuchen, also z.B. keine Raucher, keine Besitzer von Autos mit schlechten Abgaswerten oder keine schlechten Väter mehr einstellten etc.?

Vielleicht sollten die Unternehmen doch besser bei „Compliance“ bleiben, diese auf Verhältnisprävention ausrichten und sich nicht die Finger an „integrer Moral“ verbrennen. Wie leicht dies geschehen kann, zeigt für viele Beobachter auch der schnelle Wechsel auf dem Vorstandsposten “Integrität und Recht” bei der Volkswagen AG an. Durch die Neubesetzung Anfang 2016 war offensichtlich zu viel Integrität und Transparenz für Volkswagen ins Spiel gekommen, weswegen die Auswechslung des Personals bereits ein Jahr später vollzogen wurde.

 

 

Quellen

Markus Pohlmann, Volker Helbig, Stefan Bär (2017): Ein neuer Geist des Kapitalismus? Selbstoptimierung und Burnout in den Wirtschaftsmedien, Österreichische Zeitschrift für Soziologie, Vol. 42, No. 1: 21-44.

Markus Pohlmann (2008): Management und Moral, in: Tobias Blank et al. (eds.): Integrierte Soziologie – Perspektiven zwischen Ökonomie und Soziologie, Praxis und Wissenschaft, München, Mering: Rainer Hampp Verlag.

Paine, L. S. (1994): “Managing for Organizational Integrity.” Harvard Business Review 72, no. 2 (March–April 1994): 106–117.

Die weltweite Verbreitung von Korruption – Eine soziologische Erklärung

von Markus Pohlmann

Wenn wir die „Weltkarte der Korruption“ betrachten, fällt uns auf, dass die weitaus meisten Länder rot bis dunkelrot eingefärbt sind. Das bedeutet, dass in diesen Ländern nach Einschätzung der Befragten Korruption eine große Bedeutung hat. Dieser Wahrnehmungsindex lässt sich ebenso wie alle anderen Indizes methodisch hinterfragen. Allerdings: Wenn man sich mit Gerichtsakten und Statistiken zu den aufgedeckten Fällen von Korruption und Bestechung beschäftigt, gewinnt man ebenfalls den Eindruck, dass Korruption in ganz verschiedenen kulturellen und politischen Settings eine Begleiterscheinung des Wirtschaftens, des staatlichen Handelns, des Sports, der medizinischen Krankenbehandlung und von vielem mehr ist.

Corruption Perceptions Index 2016. Quelle: Transparency International

Auch in einer historischen Analyse tritt schnell zutage, dass beispielsweise die Käuflichkeit von Amtsträgern ein Phänomen ist, das in vielen verschiedenen historischen Gesellschaftsformationen von Zeitzeugen beschrieben wird. Dies fordert natürlich anthropologische und psychologische Zurechnungen auf die Gier, die Lasterhaftigkeit und die moralische Unvollkommenheit des Menschen heraus. Diese Zurechnungen sind für die Soziologie weniger interessant, weil der Bezug zur Spezifität des Phänomens verloren geht.

Wie könnte also eine soziologische Erklärung des Phänomens Korruption aussehen?

Historisierende Herangehensweisen, die sich beispielsweise auf den Kapitalismus beziehen, müssen dabei als Kandidaten einer solchen Erklärung zurückgestellt werden: Das Phänomen tritt auch in feudalen, sozialistischen, staatlich regulierten Formen des Wirtschaftens auf. Es sei denn, Kapitalismus wird als gesellschaftliche Totalität betrachtet - dies führt allerdings wiederum in die altbekannten Sackgassen der Kritischen Theorie.

Um einen soziologischen Zugang zum Phänomen Korruption zu finden, wollen wir nicht an der Käuflichkeit selbst bzw. der Durchsetzung von privaten Sonderinteressen zu Lasten von Allgemeininteressen ansetzen. Vielmehr gehen wir von der auf Dauer gestellten, gesellschaftlichen Behandlung derselben als Korruption aus. Denn die kollektive, gesellschaftliche Wahrnehmung dieser Käuflichkeit als Korruption und ihr Eingang in die Rechtsprechung, die diese unter dem Begriff der Bestechung als kriminell brandmarkt und damit als Straftat konstituiert, sind neueren Datums. Wählen wir einen solchen Zugang zur Erklärung der Entstehung und Verbreitung von Korruption, bieten sowohl die Systemtheorie als auch die neue Institutionentheorie Perspektiven an, um die Entstehung und Verbreitung von „Korruption“ zu erklären.

Aus der Perspektive einer auf Luhmann bezogenen systemtheoretischen Herangehensweise, wie sie z.B. die Soziologin Petra Hiller entwirft, ist die Thematisierung von Korruption eine Folge gesellschaftlicher Differenzierung. Erst auf der Basis dieser Differenzierung entstehen genau spezifizierte Erwartungen an die verschiedenen Teilsysteme. Beispielsweise wird an die Politik die Erwartung herangetragen, sich in Fragen der Machtausübung an den Regeln des politischen Systems zu orientieren und nicht als Partei kaufen zu lassen. Oder dass in der Wissenschaft die Erkenntnisproduktion und -vermittlung nach Wahrheitskriterien im Vordergrund stehen und die wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht durch die Anpassung an politische Erwartungen einer Regierung kontaminiert werden. Oder sich in der Medizin die Krankenbehandlung vorrangig an dem Kriterium der Heilung orientiert und nicht in erster Linie an den Erstattungen, die man dafür erhält. Werden diese Erwartungen enttäuscht, dann wird dies als korrumpierend oder korrupt wahrgenommen. Dabei werden in dieser Perspektive die Erwartungen zuallererst in und von Organisationen enttäuscht. Denn Organisationen halten immer mehrere Logiken präsent, auch wenn sie ein Teilsystem als „Lebensmittelpunkt“ wählen. Universitäten orientieren sich zwar an wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion und -vermittlung, müssen dabei aber immer auch wirtschaften, politisch aktiv sein oder rechtliche Regeln auslegen. Aus diesem Crossover der Logiken ergibt sich, in der Perspektive der Systemtheorie, die – stets moralisch sehr selektive – Thematisierung als Korruption. Auch wenn ein Amtsträger für seine Partei in unzulässiger Weise Millionen an Zuwendungen von Wirtschaftsunternehmen kassiert, erscheint dieses Crossover von Geld und Macht als korrupt. Man weiß ja nie, welche Gesetze oder Politiken damit gekauft wurden. Je enger dabei die Grenzen für die Möglichkeiten für das Crossover der Logiken gezogen werden und je mehr massenmediale Aufmerksamkeit dem Eindringen teilsystemfremder Logiken in Organisationen zukommt, desto stärker färbt sich die Weltkarte (im metaphorischen Sinne) rot ein. Dies setzt mit der Differenzierung von Gesellschaft ein und hat diese sowie die Verbreitung von Organisationen mit ihren Kontaminationsrisiken zur Voraussetzung.

Auch die Perspektive der neuen Institutionentheorie setzt nicht an der Ausbreitung der korrupten Praktiken selbst an, sondern am Entzug der gesellschaftlichen Legitimation für sie. Der Ausgangspunkt dafür ist nicht die Differenzierung von Gesellschaft, sondern eine in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts einsetzende globale Normierung von Erwartungen, die sich bezogen auf die Stigmatisierung korrupter Praktiken an Unternehmen, Krankenhäuser, Sportvereine etc. richten. Hier färbt sich die „Weltkarte der Korruption" im metaphorischen Sinne rot oder dunkelrot, weil sich diese Erwartungen an Organisationen erfolgreich institutionalisieren. Es gleichen sich aber auch die regulatorischen Regime in der juristischen Behandlung von Korruption als Straftat weltweit an und fügen der globalen Normierung gesetzlichen Zwang hinzu. Zurecht beschreiben viele Autoren, wie sich seit den 90er Jahren, als viele noch den neoliberalen Rückzug des Staates diskutierten, eine globale Verbreitung von regulierenden Institutionen, Anti-Korruptionsmaßnahmen und neuen Anti-Korruptionsgesetzen in ganz verschiedenen Ländern und Weltregionen beobachten lässt (Jordana et al. 2011, de Rugy/Warren 2009, Braithwaite 2008). Diese Institutionen und Maßnahmen kriminalisieren die Durchsetzung privater Sonderinteressen zu Lasten des Gemeinwohls bzw. der formalen Verpflichtung eines Amtes unter bestimmten Bedingungen. Sie intensivieren deren strafrechtliche Verfolgung und führen dazu, dass solche Praktiken in vielen Ländern gesellschaftlich immer weniger akzeptiert werden. Am Beispiel der Wirtschaft zeigt sich, dass die Externalisierung der gemeinwohlschädigenden Folgen des Wirtschaftens in diesen Fällen nicht mehr bruchlos gelingt, d.h. nicht ohne Skandalisierungen, Legitimitätseinbußen oder Imageschäden. Daher werden die neuen gesellschaftlichen Anforderungen hier in Formalstrukturen (Compliance-Programme) übersetzt, die vor Strafverfolgung schützen bzw. die Strafen abmildern sollen.

Doch wie kommt es zu diesem Legitimationsentzug?

Dabei spielen m.E. auf Moral spezialisierte, zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich seit den 70er Jahren rasant vermehren, eine wichtige Rolle. Denn Staaten, Unternehmen, Krankenhäuser, Universitäten etc. haben es nicht mehr nur mit Moralisten und deren Bewegungen zu tun, sondern zunehmend mit international operierenden, zivilgesellschaftlichen Organisationen. Diese achten nun systematisch und dauerhaft darauf, dass beispielsweise beim Wirtschaften festgelegte Moralstandards nicht verletzt werden, etwa Prinzipien des Umweltschutzes oder die Einhaltung der Menschenrechte. Damit wird eine bestimmte Art der Externalisierung von Kosten und Gemeinwohlschäden durch die Unternehmen riskanter als früher. Aber auch staatliche Organisationen sehen sich nun gezwungen, Regeln und Gesetze zu erlassen, die solche Praktiken ächten. Eine neue Phase der Verbreitung von regulierenden Institutionen wird eingeläutet. Dadurch werden - zusammen mit den Compliance-Maßnahmen - gängige Praktiken nun als korrupt stigmatisiert und deren Aufdeckungswahrscheinlichkeit erhöht. Andere wandern dafür ins Dunkelfeld ab, wo sich neue Wege der Korruption finden.

In der soziologischen Perspektiven bezieht sich Korruption also nicht einfach nur auf eine soziale Praxis, sondern auch auf deren Thematisierung und Stigmatisierung als Korruption. Erst wenn man diesen Aspekt ernst nimmt, bekommt man einen soziologischen Zugang zu ihrer Verbreitung. Sie hat in beiden Ansätzen maßgeblich etwas mit entstehenden gesellschaftlichen Erwartungen und deren Enttäuschung zu tun. Sie sind in beiden Ansätzen Produkt einer globalen Gesellschaftsformation und nicht der Unvermeidlichkeit von individueller menschlicher Devianz, Gier, Skrupellosigkeit oder fehlender Integrität.

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Quellen

Braithwaite John (2008): Regulatory Capitalism: How it Works Ideas for Making it Work Better, Cheltenham/Northampton: Edward Elgar.

De Rugy, Veronique, Melina Warren (2009): Expansion of Regulatory Budgets and Staffing Continues in New Administration: An Analysis of the U.S. Budget for Fiscal Years 2009 and 2010, Fiscal Year 2010 Annual Report, Arlington/St. Louis: Mercatus Center & Murray Weidenbaum Center on the Economy, Government, and Public Policy.

Hiller, Petra (2005): Korruption und Netzwerke: Konfusionen im Schema von Organisation und Gesellschaft, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie, Jg. 26, Nr. 1, S. 57-77.

Jordana, Jacint et al. (2011): The Global Diffusion of Regulatory Agencies: Channels of Transfer and Stages of Diffusion, in: Comparative Political Studies, Jg. 44, Nr. 10, S. 1343-1369.

Pohlmann, Markus (2008): Management und Moral, in: Münch, Tanja et al.: Integrierte Soziologie. Perspektiven zwischen Ökonomie und Soziologie, Praxis und Wissenschaft, München/Mering: Rainer Hampp Verlag, S. 161-175.

Pohlmann, Markus (2016): Soziologie der Organisation. Eine Einführung, 2. Auflage, Konstanz/München: UVK Verlagsgesellschaft mbH.

Gepanschte Krebsmedikamente in Deutschland: Whistleblowing und seine Konsequenzen

Von Markus Pohlmann

Quelle: Wikimedia Commons

Am kommenden Montag, den 13. November 2017, beginnt der Prozess gegen den seit einem Jahr in der JVA Wuppertal inhaftierten Apotheker Peter S. Der Angeklagte war eine renommierte Figur in Bottrop, ein Apotheker mit der Zulassung, Krebsmittel herzustellen. Ihm wird vorgeworfen, Krebsmedikamente gestreckt und gepanscht zu haben, sodass diese nicht mehr wirksam waren. Bislang schweigt der Angeklagte zu allen Vorwürfen. Den bisherigen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft in Essen zufolge sind bundesweit mindestens 3.700 Patienten betroffen. Allerdings wurden aufgrund der Verjährungsfrist nur Fälle der letzten fünf Jahre ausgewertet. 37 Arztpraxen und Kliniken sind laut Anklage in den vergangenen fünf Jahren von dem Bottroper Apotheker mit falsch dosierten Krebsmedikamenten beliefert worden. Die meisten davon in Nordrhein-Westfalen, aber auch in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Saarland, Sachsen und Niedersachsen. Nach den Recherchen des politischen Magazins Panorama und des journalistischen Portals Correctiv hat der wegen gepanschter Krebsmedikamente in 60.000 Fällen angeklagte Apotheker 2005 mehr als 7.300 Patienten mit den 49 Wirkstoffen beliefert (Panorama 2017; Correctiv 2017). Diese Wirkstoffe finden sich derzeit auf der Liste der manipulierten Wirkstoffe des Bottroper Gesundheitsamtes (Stadt Bottrop 2017). Viele Patienten scheinen davon gar nicht oder viel zu spät unterrichtet worden zu sein.

Die Whistleblower

Quelle: Wikimedia Commons

Auf die Spur des Apothekers sind nicht etwa die Ermittlungsbehörden gekommen, sondern ein neu eingestellter kaufmännischer Leiter und eine pharmazeutisch-technische Angestellte der Apotheke. Da in Deutschland keine Behörde kontrolliert, ob die Apotheke die Infusionsbeutel wirklich mit den Medikamenten in vorgeschriebener Dosierung befüllt, ist die Strafverfolgung auf Insiderhinweise angewiesen. Den Aussagen der Whistleblower zufolge gab es vor der Aufdeckung der unterdosierten Krebsmedikamente offenbar bereits Gerüchte und Hinweise von Angestellten, die bereits gekündigt hatten.

Um seinen Verdacht zu belegen, dass die eingekauften Grundsubstanzen nicht den verkauften Krebsmedikamenten entsprachen, suchte der kaufmännische Leiter nach einer Gelegenheit, dies unbemerkt zu überprüfen. Als er diese fand, rechnete er nach. Und tatsächlich: So wurden z.B. 16.000 Milligramm des Krebsmedikamentes Opdivo eingekauft. Das waren aber, gemessen an den Verkäufen, 36.000 Milligramm zu wenig. Durch die gestreckten Krebsmedikamente wurde die ohnehin schon große Gewinnspanne multipliziert. Nach Schätzungen ließen sich allein mit diesem einen Mittel in einem Jahr zusätzlich 615.000 € Gewinn realisieren. Nachdem der kaufmännische Leiter dies mehrfach geprüft hatte, wandte er sich schließlich an einen befreundeten Anwalt. Mit seinem Anwalt zusammen schreibt er eine Strafanzeige wegen gewerbsmäßigen Betrugs. Die Staatsanwaltschaft nimmt die Ermittlungen auf. Doch es werden mehr Beweise benötigt. Die pharmazeutisch-technische Angestellte nimmt daraufhin einen Infusionsbeutel, einen Rückläufer, mit. Dieser wird analysiert und einen Monat später kommt es zur Razzia. Der Apotheker wird verhaftet und überschreibt die Firma seiner Mutter. Die neue Inhaberin entlässt den kaufmännischen Leiter und die pharmazeutisch-technische Angestellte umgehend, mit dem Hinweis, dass die Angelegenheit intern zu klären gewesen wäre. Bis heute ist der kaufmännische Leiter ohne Anstellung und bekommt nun, zusammen mit der pharmazeutisch-technischen Angestellten den Whistleblower-Preis der Juristen-Initiative Ialana überreicht (Geistblog 2017).

In soziologischer Perspektive ist es aus zwei Gründen spannend, sich mit Whistleblowing zu beschäftigen. Zum einen sind Unternehmen aufgefordert, auch Regelabweichungen aufzuzeigen, deren Aufdeckung ihnen massiv schadet. Ihre Anreizstruktur liegt dann z.B. darin, durch „Self-Reporting“ im Falle der Enthüllung illegaler Praktiken drakonischen Strafen zu entgehen. Zum anderen riskieren Personen, die „das Richtige tun“, ihre Karriere und ihre Reputation. Ihnen wird nicht selten das Stigma des Verräters zugeschrieben.

Die Effektivität der Whistleblower-Programme

Im Falle von organisationaler Devianz sind Regelabweichungen, wie auch jene in der Bottroper Apotheke, bis zu ihrer Aufdeckung zum Nutzen des Unternehmens oder des Eigentümers. Allerdings entsteht Dritten dabei meistens kein so massiver Schaden und die Übernahme moralischer Verantwortung ist nicht so offen herausgefordert wie im Bottroper Fall. Im vorliegenden Fall ist es ja vielmehr erstaunlich, wie lange diese, für Insider erkennbare, mutmaßlich verbrecherische Praxis der Apotheke mit massivem Schaden für schwerkranke Patienten etabliert war, bevor sie zur Anzeige gebracht wurde. In vielen anderen Fällen bezieht sich der Nutzen des Unternehmens aber häufig auf finanzielle Vorteile, die auf Kosten von Mitbewerbern oder Staaten realisiert werden – mit geringerem moralischen Aufforderungscharakter als in Bottrop.

Nun lösen die großen Unternehmen diesen Anspruch zunächst formal. Sie etablieren Whistleblower-Programme mit Ethik-Hotlines, fördern eine Stand-Up-Culture und forcieren No-Retaliation-Policies. Dies dient jedoch in erster Linie der Dokumentation, dass den Erwartungen der amerikanischen Justizbehörden an ein Compliance-Programm entsprochen wurde (US Department of Justice 2017) und dass im Falle einer Aufdeckung durch „Self-Reporting“ geringere Strafzahlungen drohen. Doch nach unseren Recherchen fungieren diese Programme in der Realität oft nur als „Kummerkasten“ der Organisation oder werden von Angestellten für die Thematisierung anderer Probleme – insbesondere HR-bezogenen – genutzt. Fast nie werden nach unseren bisherigen Recherchen gravierende Verstöße gegen Regeln gemeldet, die ggf. an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet werden. Der Anspruch Regelabweichungen aufzudecken wird also oft nur formal eingelöst. In der Praxis bleibt der Interessenskonflikt in den Unternehmen bestehen und auch Angestellte wollen nicht als Verräter dastehen.

Die Folgen für die Whistleblower

Quelle: Pixabay

Die in den USA teilweise hohen gezahlten Summen für Whistleblower sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass deren frühere soziale Existenz und Karriere – wie im Bottroper Fall – oft beschädigt oder vernichtet wird. Zwar sind die Whistleblower heute viel besser geschützt. In den USA nimmt die Zahl der Whistleblower zu[1] und die sogenannten Whistleblowing-Programme sind deswegen auch erfolgreich, weil diese z.B. bei der United States Securities and Exchange Commission (SEC) zwischen 10 % und 30 % der von den Firmen wieder hereingeholten Gelder bekommen können. Aber dennoch zeigen z.B. Fälle wie jener des Whistleblowers Bradley Birkenfeld bei der Bank UBS, der zusammen mit dem Whistleblower Hervé Falciani (Genfer HSBC Private Bank Suisse) dazu beitrug, dass das Schweizer Bankgeheimnis kippte, wie schwer es Whistleblower faktisch haben. So berichtet Birkenfeld z.B. wie die Bank aus seiner Sicht versucht hat, ihre in den USA illegalen Praktiken, durch die Verabschiedung formaler Verbotsregeln zu individuellem, ggf. strafbaren Fehlverhalten zu machen. Daraufhin wandte sich Birkenfeld an die amerikanischen Justizbehörden. Sowohl ihm, der eine Haftstrafe verbüßen musste und erst später durch die Whistleblower-Regeln in den Genuss einer Millionenabfindung kam, entstand ein großer Schaden, als auch der Bank, die in einem Deal 780 Millionen US$ Strafe und Wiedergutmachung zu zahlen hatte (US Department of Justice 2009). Er sei innerhalb der Bank zum „Verräter“ gestempelt worden und verlor die meisten „Freunde“ und Vergünstigungen und seine Karriere war beendet, so Birkenfeld (Birkenfeld 2017: 143).

Solange Mitarbeiter, die „das Richtige tun“, als Verräter abgestempelt werden oder, wie auch im Bottroper Fall, ihre Karriere riskieren, brauchen wir Preise, Initiativen und Programme, um sie zu schützen. Auch Unternehmen, die Selbstanzeige o.ä. stellen, werden durch finanzielle Anreize gefördert. Aber wir sollten nicht zu viel erwarten. Denn zentral für deviante Handlungen sind die ungeschriebenen Regeln in den Unternehmen. Und diese ändern sich nur langsam, mit ihrer und unserer Kultur. Formale Compliance- und Whistleblowing-Programme mögen die symbolischen Wegbereiter eines solchen Kulturwandels sein, sie regulieren aber nicht die informellen Praktiken in den Unternehmen.

Quellen

Birkenfeld, Bradley (2017): Des Teufels Banker. Wie ich das Schweizer Bankgeheimnis zu Fall brachte, München: FinanzBuch Verlag.

Correctiv (2017): Wie zwei Menschen dafür sorgten, dass ein Apotheker keine Krebsmedikamente mehr panscht, verfasst von Anna Mayr, zuletzt aufgerufen am 10.11.2017.

Falciani, Hervé (2015): Séisme sur la planète finance. Au coeur du scandale HSBC, Paris: La Découverte.

Geistblog (2017): Einladung zur Whistleblower-Preis Verleihung an Can Dündar sowie Martin Porwoll & Maria-Elisabeth Klein, Kassel, 1.12.2017, zuletzt aufgerufen am 10.11.2017.

Jones Day (2017): FCPA 2016 Year in Review. White Paper, zuletzt aufgerufen am 10.11.2017.

Panorama (2017): Unterdosierte Krebsmedikamente: Über 3.700 betroffen, Stand: 16.08.17 18:00 Uhr, zuletzt aufgerufen am 10.11.2017.

Stadt Bottrop (2017): Liste der Medikamente, zuletzt aufgerufen am 10.11.2017.

US Department of Justice (2009): United States of America v UBS AG. Deferred Prosecution Agreement, filed in the United States Southern District Court for the Southern District of Florida, Miami Division, Case No 09-60033-CR-COHN, zuletzt aufgerufen am 10.11.2017.

US Department of Justice (2017): Evaluation of Corporate Compliance Programs, zuletzt aufgerufen am 10.11.2017.

Fußnoten

[1] "By the end of 2016, the SEC’s whistleblower program led to more than $500 million in disgorgement, interest, and penal ties paid by companies and more than $136 million in bounties paid to 37 whistleblowers" (Jones Day 2017: 9)

Der Handel mit Geflüchteten, gefälschten Krebsmedikamenten oder Giftmüll – Die alltäglichen Geschäfte der italienischen Mafia in Deutschland und der schwierige Kampf gegen sie

von Markus Pohlmann

Quelle: Pixabay

Die italienische Mafia kommt in Film und Fernsehen immer gut an. „Popcorn-Mafia“, so nennt es Petra Reski, Journalistin und Autorin mehrerer Mafia-Bücher. Wir alle haben den Paten, Good Fellas, die Sopranos oder Ähnliches vor Augen. Dies gehört zur Mythologie der italienischen Mafia. Die Realität ist allerdings bitter und allgegenwärtig in Deutschland. Die Schätzungen der Sicherheitsbehörden gehen von einer deutlichen Zunahme aktiver Mafiosi in Deutschland aus. 2008 gehörten nach diesen Schätzungen 136 Mitglieder zur italienischen organisierten Kriminalität (kurz IOC), 2017 wird von 562 Mitgliedern ausgegangen. Die sizilianische Cosa Nostra verzeichnet einen Zuwachs von 520 %, die kalabrische 'Nrdangheta von 455 %. Und das ist nur der engere Kern. Geschätzt wird weiter, dass rund 60.000 Menschen in Europa in ihre Geschäfte verwickelt sind und rund 100 Mrd. € Umsatz realisiert wird. Dabei ist Deutschland nicht etwa nur Rückzugsort, sondern eines der europäischen Zentren für die Geschäftsaktivitäten der italienischen Mafia. Drogenschmuggel und Prostitution sind die ersten Assoziationen, die wir aus Film und Fernsehen vor Augen haben. Derzeit steht die Mafia aber auch unter Verdacht, so Petra Reski, Flüchtlingszentren in Italien zu betreiben und Flüchtlinge in Schwarzarbeit oder in die Prostitution zu vermitteln. Auch die mittels Scheinfirmen eroberte Baubranche und die illegale Giftmüllentsorgung sind in Deutschland und Europa boomende Geschäftszweige. Aber viele ihrer Aktivtäten sind noch näher an unserem Alltag. Denn auch mit gefälschten Medikamenten und Produktpiraterie verdient die italienische Mafia viel Geld. 2014 berichtete das Wall Street Journal, dass die aus Neapel stammende Camorra im großen Stil Krebsmedikamente aus Krankenhäusern oder Lieferwagen stiehlt und dann gestreckt oder gepanscht, also bestenfalls wirkungslos, wieder durch registrierte Großhändler in den Handel bringt. Die Gewinnmargen sind enorm. Diese Großhändler hätten Quittungen für die Medikamente von falschen Großhändlern erhalten, die ihren Sitz in Ungarn, Rumänien und Lettland haben, so eine informierte Person. Von Italien aus seien die Medikamente dann in andere europäische Länder verkauft worden. Dieser Parallelvertrieb der italienischen Mafia traf und trifft schwerkranke Menschen in Deutschland. Aber auch gepanschtes Olivenöl, gepanschter Wein und Sekt sowie gefälschte Markenartikel in Outletstores gehören zu unseren alltäglichen Berührungspunkten mit den Aktivitäten der italienischen Mafia. Als die Staatsanwaltschaft in Frankfurt die Verhaftung eines italienischen Staatsbürgers anordnete, der vier Menschen mit einer Kalaschnikow ermordet hatte, fand man in seinem Apartment tausende Jeans mit dem Logo der Marke Hilfiger, produziert von drei italienischen Firmen für süddeutsche Outletstores. Die italienische Mafia ist heute Teil eines globalen Marktes. Sie operiert unter dem Deckmantel legaler Firmen mit einer breiten Palette illegaler Aktivitäten. Das Internet erleichtert dabei ihre globalen Geschäftsaktivitäten enorm.

Die italienische Mafia: Archaische Bruderschafts- und Clanstrukturen

Das soziologisch Spannende an der italienischen Mafia ist, dass sie trotz ihrer globalen Aktivitäten und der modernen Geschäftsformen archaische Bruderschafts- und Clanstrukturen aufrechterhält. Sie ist bis heute, trotz ihrer umfangreichen wirtschaftlichen Aktivitäten, im soziologischen Sinne keine Organisation, sondern eine traditionelle, clanbasierte kriminelle Vereinigung. Dies kann man einfach an den Mitgliedschaftsregeln erkennen. Erstaunlicherweise erfolgt der Eintritt – man kann sich nicht bewerben – auch heute noch oft in der Form einer rituellen Zuwahl, durch eine Art „Initiationsritus“. Dazu gehört u.a. ein mit Blut besiegelter Schwur. Zwar hat sich die italienische Mafia auch für Mitglieder geöffnet, die nicht dem Clan angehören, aber im Kern bleibt sie durch Familienclans dominiert. Auch die Austrittsregeln haben sich nicht groß verändert. Der Austritt ist schlicht nicht möglich, es sei denn durch den Tod. Auch diejenigen, die Zuflucht im Zeugenschutzprogramm suchen, fühlen sich vor der Rache der italienischen Mafia nicht sicher. Unbedingter Gehorsam und die Vereinnahmung mit Leib, Leben und – im Falle von Sanktionen – der ganzen Familie, haben nach Einschätzung der Experten bis heute Bestand. Die italienische Mafia gleicht darin Geheimbünden und Bruderschaften. Sie hat ihre aus dem 19. Jahrhundert stammende Form der Gemeinschaft kaum verändert. Warum nicht? Aus Sicht der Soziologie liegt die Antwort auf der Hand: Weil moderne Organisationen einer solch archaischen Form der kriminellen Vereinigung wenig entgegensetzen können.

Der schwierige Kampf gegen die italienische Mafia

Quelle: Roberto Scarpinato

Dies führt uns zu Roberto Scarpinato, Italiens bekanntem Mafia-Jäger. Seine Karriere hat er Ende der 80er Jahre als junger Staatsanwalt an der Seite von Giovanni Falcone und Paolo Borsellino begonnen und erlebte, wie die beiden Richter 1992 von der Mafia durch Bombenanschläge ermordet wurden. Seit dieser Zeit steht er unter Polizeischutz; seine acht Personenschützer begleiten ihn auf Schritt und Tritt. Ein normales Leben ist für ihn seitdem nicht mehr möglich. Die Mafia-Verfahren gegen den italienischen Abgeordneten Giulio Andreotti und gegen Berlusconis rechte Hand, Marcello Dell'Utri, wurden von ihm geleitet und begleitet. Letzterer wurde 2014 in letzter Instanz zu sieben Jahren Haft verurteilt. Selbst mit Personenschutz, fürchtet Scarpinato, würde er einfach erschossen werden, wenn er heute durch die Straßen von Palermo laufen würde. Genau das ist in einer soziologischen Betrachtung der zentrale Punkt: Falcone, Borsellino und Scarpinato waren und sind Ausnahmen, welche die Regel in modernen Organisationen bestätigen. Wir werden eben nicht mit Leib und Leben vereinnahmt (wenn wir dies nicht selbst herbeiführen). Die Bindung ist rein vertraglicher Art und wir können gehen, wenn es uns zu viel wird. „Scarpinatos“ gibt es in modernen Organisationen nur wenige. Organisationen generieren in der Regel nicht die Bereitschaft, für ein „kleines Gehalt“, für geringe Anerkennung und bei andauerndem Kampf gegen rechtliche und organisatorische Hürden, dauerhaft das eigene Leben und das der Familie zu gefährden und die Mühen eines stets gefährdeten Lebens außerhalb der Normalität auf sich zu nehmen. Moderne Organisationen können und dürfen die Mafia nicht mit eigenen Mitteln schlagen und ihre Organisationsform macht den Kampf gegen die archaische Form der italienischen Mafia so mühsam. Allerdings ist das nicht der einzige Grund, warum die italienische Mafia in Deutschland und Europa prosperiert.

Das Zurückbleiben der Strafverfolgungsbehörden

Während die italienische Mafia auf Basis ihrer archaischen Form global operiert, arbeiten die deutschen Strafverfolgungsbehörden lokal oder regional. Es ist für sie z.B. nicht möglich, einen italienischen Staatsbürger zu belangen, nur weil dieser der italienischen Mafia angehört. Polizei und Justiz können nur einzelne Rechtsbrüche und die daran beteiligten Straftäter verfolgen. Angesichts ihrer chronischen Unterausstattung mit Personal, Kompetenzen und Finanzen sowie der hohen rechtsstaatlichen Hürden fällt allerdings auch dies schwer. Aus einer soziologischen Perspektive ist daher der zweite zentrale Punkt, dass die Justiz- und Strafverfolgungssysteme in Deutschland und vielen Ländern Europas in Form, Ausprägung und Finanzierung eher dem 19. Jahrhundert als dem 21. Jahrhundert verpflichtet und daher dem globalen Geschäftsmodell der italienischen Mafia immer weniger gewachsen sind. Zwar gibt es immer wieder einzelne Erfolge und erfolgreiche europäische Kooperationen, aber diese bleiben ein Tropfen auf dem heißen Stein.

Quelle: Pixabay

Was können wir also tun? Wir können am ersten Punkt nichts ändern, am zweiten allerdings schon. Unverständlich bleibt beispielsweise, warum die chronische Unterfinanzierung der Justiz nicht wie in den USA oder Italien dadurch abgemildert werden kann, dass die konfiszierten illegalen Vermögen und Einnahmen der Mafiosi der Staatskasse zugeführt werden. Denn in Italien und den USA ist die Beweislast umgekehrt. Kann der Verdächtige nicht belegen, wie er zu dem Vermögen gekommen ist, wird es beschlagnahmt. Schon 2013 hatte die Bundesregierung die Beweislastumkehr angekündigt. Solange die Reform ausbleibt, gestaltet sich der Umgang mit dem Vermögen der Mafiosi schwierig. Dies ist umso bitterer, wenn darüber hinaus Journalisten wie Petra Reski immer wieder selbst mit teuren Klagen, Verfahren und Urteilen rechnen müssen, wenn sie über die Aktivitäten der italienischen Mafia berichten.

 

 

Quellen:

Berliner Zeitung vom 18.11.2006: Die Mafia vergisst nicht. Interview mit Roberto Scarpinato, von Julia Kospach, zuletzt aufgerufen am 27.10.2017.

Deutscher Bundestag, 18. Wahlperiode: Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vom 24.07.2017, Drucksache 18/13198.

Deutscher Bundestag, 18. Wahlperiode: Antwort der Bundesregierung vom 15.08.2017, Drucksache 18/13320.

Kirkpatrick, David Ryan (2016): Organisierte Kriminalität - Wirtschaftskriminalität, in: Wistra – Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, Jg. 35, Nr. 10, S. 378-386.

Pohlmann, Markus (2016): Soziologie der Organisation. Eine Einführung, 2. überarb. Auflage, Konstanz, München: UVK/UTB.

Reski, Petra (2009): Mafia. Von Paten, Pizzerien und falschen Priestern, Knauer TB.

Reski, Petra (2010): Von Kamen nach Corleone. Die Mafia in Deutschland, Hoffmann und Campe Verlag GmbH.

Reski, Petra (2017): Bei aller Liebe. Serena Vitales dritter Fall, Hoffmann und Campe Verlag GmbH.

Savona, Ernesto U.; Riccardi Michele; Berlusconi Giulia (Hrsg.) (2016): Organised Crime in European Businesses, London: Routledge.

Spiegel Online vom 15.08.2017: Organisierte Kriminalität: Deutlich mehr Mafiosi in Deutschland, von Martin Knobbe, zuletzt aufgerufen am 27.10.2017.

tele-akademie vom 24.10.2010: Organisiertes Verbrechen – die Kriminalität im 3. Jahrtausend, Videomitschnitt, zuletzt aufgerufen am 27.10.2017.

Telepolis vom 10.10.2017: La Mafia in Germania, zuletzt aufgerufen am 27.10.2017.

Travaglio, Marco: Intervista a Roberto Scarpinato: Stragi di mafia: ecco quello che sanno, zuletzt aufgerufen am 27.10.2017.

Welt vom 02.05.2014: Pharma: Mafia schleust gefälschte Krebsmittel nach Europa, von B. Faucon, H. Plumridge, M. Falconi, zuletzt aufgerufen am 27.10.2017.

Zeit Online vom 07.02.2008: Mafia. Kreislauf des Schweigens, von Petra Reski, zuletzt aufgerufen am 27.10.2017

Leben und Sterben auf der Warteliste – der Zugang zu knappen Organen und die rechtlich in Frage gestellten Zugangsregeln in der Transplantationsmedizin

Von Markus Pohlmann

Seit seinem 25. Lebensjahr trinkt D. größere Mengen Alkohol. Er ist 57 Jahre alt und war von Beruf Bäcker. D. ist geschieden und hat vier Kinder. Er arbeitet mittlerweile in einer Brauerei und bekommt dort jeden Tag eine Kiste Bier. Darüber hinaus konsumiert er in großen Mengen Schnaps. Nach einem Entzug wird dem Patienten regelmäßig das verschreibungspflichtige Medikament Distraneurin (Clomethiazol) verordnet, welches die Folgen des Alkoholentzugs mildern soll, aber bei längerfristigem Gebrauch selbst zur Abhängigkeit und zu weiteren Schädigungen der Leber führt. D. nimmt das Medikament über viele Jahre hinweg regelmäßig, täglich bis zu 30 Tabletten und findet immer wieder Ärzte, die ihm dieses Medikament verschreiben. Eine psychotherapeutische Behandlung zur Distraneurin-Entwöhnung lehnt D. ab. Er möchte auf die Warteliste des Transplantationszentrums und eine neue Leber erhalten. Als dies sein behandelndes Klinikum wegen seines Medikamentenmissbrauchs und seines fortgesetzten Alkoholkonsums ablehnt, sucht er sich ein neues Krankenhaus. Der dort zuständige Transplantationschirurg weist ihn auf eine Ausnahmeregelung hin: Er kann eine Spenderleber erhalten, die von anderen Patienten abgelehnt wurde. D. willigt ein und wenig später wird ihm die Leber einer hirntoten 69-jährigen Frau angeboten.

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Obwohl er noch trinkt und Distraneurin einnimmt, führt der Transplantationschirurg die Transplantation durch. Dies geschieht an den Richtlinien der Bundesärztekammer vorbei, welche als Voraussetzung für eine Transplantation vom Patienten eine sechsmonatige Abstinenz verlangen. Nicht selten kann sich die Leber in diesen sechs Monaten erholen und eine Transplantation dann überflüssig werden. Das Gericht gibt dem Transplantationschirurgen in seiner Nicht-Beachtung der Richtlinien später recht. Aufgrund seines fortgesetzten Medikamenten- und Alkoholmissbrauchs verliert D. nach einiger Zeit seine Leber wieder und bekommt eine neue Leber implantiert. Doch D. nimmt Distraneurin immer weiter ein. Nach einem Leberabszess, der unter der notwendigen Immunsuppression nicht ausheilen kann, kommt es zu einem septischen Schock mit Multiorganversagen, an dessen Folgen D. nach einiger Zeit verstirbt.

Rechtliche Verbindlichkeit der Richtlinien der Bundesärztekammer in Frage gestellt

Nach Anhörung der Sachverständigen kommt das Göttinger Gericht im Falle von D. zu dem Schluss, dass dieser sehr wahrscheinlich innerhalb eines Jahres gestorben wäre (Urteil des Landgerichts Göttingen vom 06.05.15, Geschäftsnr.: 6 Ks 4/13, S. 92f.), wenn er den Richtlinien entsprechend aufgrund seines andauernden Suchtverhaltens nicht transplantiert worden wäre. Weiter kam das Gericht zu dem Schluss, dass der in den Transplantationsregeln festgelegte ausnahmslose Ausschluss von Patienten wie D. aufgrund seines fortgesetzten Alkoholkonsums gegen das Grundgesetz verstößt und damit verfassungswidrig war. Dies hat zur Folge, dass auch die Richtlinie der Bundesärztekammer (BÄK) rechtswidrig und damit unwirksam war. Der Verstoß gegen die Richtlinien der Bundesärztekammer durch die Transplantation bei D. war somit nicht nur medizinisch indiziert, sondern nach Ansicht des Gerichts auch verfassungskonform, weil dadurch ein rechtlich gebotenes Verhalten praktiziert wurde.

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Dies hat der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofes (BGH) in Leipzig am 28. Juni 2017 bestätigt. Er verwarf damit aber nicht nur die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Göttingen (Urteil des BGH vom 28.06.17, Az.: 5 StR 20/16), sondern auch die rechtliche Geltungskraft der Richtlinien der Bundesärztekammer selbst. Deren rechtliche Verbindlichkeit ist damit in Frage gestellt. Zwar müssen die im Transplantationsgesetz geregelten Verbote beachtet werden und wer Falschangaben macht, macht sich nach § 19 TPG Abs. 2a strafbar[1]. Aber es ist nun unklar, nach welchen Kriterien die Ärzte im Einzelfall zu entscheiden haben. Zwar ist laut BGH-Urteil die Bundesärztekammer in § 16 TPG[2] „ermächtigt“, Richtlinien aufzustellen, aber Verstöße gegen diese sind nicht strafbar. Auch wenn die Bundesärztekammer ihre Richtlinien angepasst und Ausnahmen zugelassen hat, sind diese als „exekutive Rechtssetzung“ rechtlich „unbeachtlich“ (Urteil des BGH vom 28.06.17, Az.: 5 StR 20/16, S. 20) und ist ihre Verletzung nicht strafbar.

Der BGH hat zwar nicht über die Verfassungswidrigkeit einiger der Richtlinien selbst entschieden – dafür war er in diesem Fall nicht zuständig[3]. Das BGH-Urteil hat aber deutlich gemacht, dass es den Richtern selbst obliegt, über die Verfassungsgemäßheit der Richtlinien zu entscheiden. Damit hat das Göttinger Landgericht in diesem Fall das Sagen. Und dieses hat deutlich gemacht, dass sich die Verfassungswidrigkeit der damals geltenden Richtlinien nicht nur auf den – mittlerweile korrigierten - ausnahmslosen Ausschluss von Patienten bezieht, welche die vorgeschriebene Alkoholabstinenzzeit nicht eingehalten haben. Auch der Ausschluss von Patienten mit Krebs in einem fortgeschrittenen Stadium, von Patienten mit akutem Leberversagen und geringer Überlebenswahrscheinlichkeit bei einer viralen Hepatitis sowie die Festlegung einer Altersgrenze für Transplantationen entlang der statistischen Lebenserwartung ist diesem Urteil zufolge verfassungswidrig. Abweichungen davon sind deshalb nicht rechtswidrig. Denn auch ein 75-jähriger Patient kann von einer Transplantation nennenswert profitieren.

Rechtliche Deregulierung der Transplantationsmedizin

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In einer soziologischen Perspektive kommt dies einer weitgehenden rechtlichen Deregulierung der Transplantationsmedizin gleich. Solange der Gesetzgeber jetzt nicht aktiv wird, erscheint nicht nur der Schutz vor Regelabweichungen defekt reguliert, sondern es ist nun auch gänzlich fraglich, wie denn Regelabweichungen und Strafbarkeitskriterien im Einzelfall definiert sind. Ein Danaergeschenk des Bundesgerichtshofes! War bis 2012 die Durchsetzung und Überprüfung der Einhaltung der Richtlinien in den Transplantationszentren lückenhaft, so erscheinen nun die gesetzlichen Grundlagen selbst unsicher. Die Transplantationsmedizin kommt so nicht zur Ruhe. Zwar kann es der Gesetzgeber nun nicht mehr bei der „Ermächtigungsnorm“ für die BÄK belassen, sondern muss selbst Richtlinien in Gesetzesform mit konkreten Handlungs- oder Unterlassungspflichten formulieren. Doch wie schwer er sich damit tut, auf der tragischen Basis der Organknappheit adäquate Regelungen zu finden, hat sich in den letzten Jahrzehnten bereits gezeigt.

Für die Mediziner in der Praxis ist damit unklar, welche Richtlinien bindend sind und unter welchen Bedingungen man ihnen noch folgen kann. Dieses juristische Nachspiel des Transplantationsskandals hat daher für die Rechtsprechung, die BÄK und für den Arbeitsalltag der Transplantationsmediziner weitreichende Folgen. Zwar ist das Urteil des BGH für die anderen Prozesse formal nicht bindend, aber in der Rechtspraxis wird trotzdem kaum davon abgewichen. Dadurch hat sich die Rechtsunsicherheit für die Mediziner deutlich erhöht, denn sie müssen nun in einem fragwürdigen Einzelfall selbst entscheiden, ob sie den – zwischenzeitlich geänderten – Richtlinien der BÄK Folge leisten wollen oder inwiefern es rechtmäßig ist, dies nicht zu tun.

 

Fußnoten

[1] So ist es verboten, für eine Meldung nach § 13 Absatz 3 Satz 3 TPG den Gesundheitszustand eines Patienten unrichtig zu erheben oder unrichtig zu dokumentieren oder bei der Meldung nach § 13 Absatz 3 Satz 3 TPG einen unrichtigen Gesundheitszustand eines Patienten zu übermitteln, um Patienten bei der Führung der einheitlichen Warteliste nach § 12 Absatz 3 Satz 2 TPG zu bevorzugen.

[2] § 16 Abs. 2 TPG: „Die Bundesärztekammer legt das Verfahren für die Erarbeitung der Richtlinien nach Absatz 1 und für die Beschlussfassung fest. Die Richtlinien nach Absatz 1 sind zu begründen; dabei ist insbesondere die Feststellung des Standes der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft nachvollziehbar darzulegen.“ (Höfling 2013, S. 8).

[3] In seiner Urteilsverkündung am 28.06.17 hat der Vorsitzende Richter Sander für den 5. Senat deutlich gemacht, dass mit den Richtlinien der BÄK und den Abweichungen von diesen eine Norm unterhalb eines förmlichen Gesetzes in Frage stehe und deswegen nicht das Verfassungsgericht darüber befinden muss, sondern die verfassungsrechtliche Nachprüfung in Fällen ihrer Entscheidungserheblichkeit vielmehr von jedem Richter vorgenommen werden kann (Urteil des BGH vom 28.06.17, Az.: 5 StR 20/16, S. 19).

 

Quellen

Der Spiegel, 28. Juni 2017: "BGH bestätigt Freispruch für Göttinger Mediziner" [abrufbar unter: http://www.spiegel.de/panorama/justiz/bgh-bestaetigt-freispruch-fuer-goettinger-transplantationsmediziner-a-1154839.html]

Deutsches Ärzteblatt 2009: "Interview mit Prof. Dr. Hans Lilie, Vorsitzender der Ständigen Kommission Organtransplantation der Bundes­ärzte­kammer: 'Wir müssen mit tief greifenden Veränderungen rechnen'" [abrufbar unter: https://www.aerzteblatt.de/archiv/67197/Interview-mit-Prof-Dr-Hans-Lilie-Vorsitzender-der-Staendigen-Kommission-Organtransplantation-der-Bundesaerztekammer-Wir-muessen-mit-tief-greifenden-Veraenderungen-rechnen]

Höfling, Wolfgang 2013: TPG, Transplantationsgesetz: Kommentar, 2. völlig neu bearb. und wesentl. erw. Aufl., Berlin: Erich Schmidt Verlag. Nachtrag Stand September 2013 [abrufbar unter: https://www.esv.info/download/katalog/media/9783503129270/Nachtrag.pdf]

Kick it like Merkel – Der Diesel-Gipfel und die defekten Institutionen des Umweltschutzes

Von Markus Pohlmann

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Manchmal ist Politik in Deutschland mehr als mühseliges Lavieren oder medial übertünchter Stillstand. Manchmal ist sie großes Kino oder vielmehr ein versiertes Schachspiel. Angela Merkel hat uns allen mit dem Diesel-Gipfel noch einmal gezeigt, wie das in Deutschland gespielt wird.

Denn dieser Gipfel hatte es in sich. VW bietet nun Neuwagen an, für die man insgesamt bis zu 40 Prozent Rabatt bekommt, wenn man z.B. seinen alten Euro 4-Diesel verschrotten lässt („Umweltprämie“). Gibt man seinen alten Wagen in Zahlung, bekommt man bei einer Fremdmarke aufgrund der sogenannten „Eroberungsprämie Inzahlungnahme“ immerhin noch 23 Prozent Rabatt. Steigt man auf Elektromobilität um, kann man diesen Rabatt nochmals deutlich erhöhen. Seit dem 1. September gelten neue Vorschriften, so dass Abgastests unter realen Fahrbedingungen vollzogen werden können. Die am stärksten von der Stickoxid-Belastung betroffenen Kommunen werden durch Fonds besänftigt, um die Verkehrssysteme in den Städten zu verändern und die Ladeinfrastruktur für Elektroautos zu verbessern. Außerdem wurden „Software-Updates“ verpflichtend gemacht, damit die Zulassungen für die Autos nicht entzogen werden müssen. „Hardware-Updates“, so Merkel in einem Spiegel-Interview vergangener Woche, „sind teuer und technisch enorm aufwendig. Wir müssen uns deshalb genau überlegen, ob eine solche Nachrüstpflicht für Motoren wirklich die Resultate bringt, die wir brauchen, weil wir damit der Automobilindustrie viel finanziellen Spielraum für Investitionen in neue und moderne Technologien nehmen würden“ (Der Spiegel 36/2017, S. 20).

Was damit gemeint ist, zeigen sowohl das Statement der Kanzlerin vom „Ende des Verbrennungsmotors“ als auch die Ankündigungen der Autoindustrie auf der derzeit stattfindenden Internationalen Automobilausstellung (IAA) in Frankfurt: Allein Volkswagen will die Investitionen in E-Autos bis 2030 auf 20 Milliarden Euro erhöhen. Bis 2025 seien von den Konzernmarken mehr als 80 neue Autovarianten mit Elektromotor geplant, darunter rund 50 reine E-Modelle und 30 Plug-in-Hybride, sagte VW-Chef Matthias Müller im Vorfeld der IAA.  Wie gesagt: Versiertes Schachspiel und großes Kino! Doch fährt die Umwelt damit wirklich auf Dauer besser und was sagt uns das Ganze über die politische Regulierung der Branche? Denn auch die zukunftsweisende Elektromobilität ist nur dann in geringerem Maße umweltschädigend, wenn die Energiewende radikal vollzogen wird und die Batterien weiterentwickelt werden (Quelle: Deutschlandfunk, 31. Juli 2017).

Eine Säule der deutschen Wirtschaft – Umweltschutz effektiv reguliert?

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Nicht zufällig stehen die deutschen Automobilkonzerne am Pranger der US-Behörden und der US-Justiz, die gegenüber den Regelverstößen klar Stellung bezogen haben. In Europa und Deutschland hingegen kamen sehr unklare, dehnbare Regelungen zur Anwendungen und die Kontrollen blieben eher oberflächlich. So gestattet die EU in ihrer Emissions-Basis-Verordnung von 2007 in Artikel 5, Satz 2 ausnahmsweise Abschalteinrichtungen, wenn „…die Einrichtung notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten“ (Art. 5 Abs. 2 Satz 2 Lit. a EBV).

Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur konstatiert in seinem Bericht der Untersuchungskommission daher, dass zwar alle Hersteller solche Abschalteinrichtungen benutzen, aber keine unzulässigen Abschalteinrichtungen verwendet würden (Bericht der Untersuchungskommission des BMVI 2016: 119). Je nach Auslegung erscheinen die Abschalteinrichtungen hier also mal als ordnungskonform, mal als ordnungswidrig. Damit beförderte das institutionelle Umfeld in Europa und die „industriefreundliche“ Politik des Verkehrsministeriums in Deutschland die Devianz-Anfälligkeit der Branche in Bezug auf die Schädigung der Umwelt, die billigend in Kauf genommen wird. Diametral entgegengesetzt zur Situation in Europa ist die Lage in den USA. Hier kam die Volkswagengruppe jedenfalls nicht mehr so billig davon wie noch einige Jahrzehnte zuvor, denn die Strafen, Restitutionen und Rechtskosten addieren sich inzwischen auf 22,6 Milliarden US Dollar. Doch damit ist es noch lange nicht vorbei. Zwar wurde eine weitere Klage des Bundesstaates Wyoming wegen Verstößen gegen Umweltgesetze vom zuständigen Richter Charles Breyer in San Francisco mit der Begründung abgewiesen, dass die beanstandeten Verletzungen des Luftreinhaltegesetzes "Clean Air Act" eine Bundesangelegenheit des US-Umweltamts EPA seien. Deswegen ist wahrscheinlich für VW auch „Entwarnung“ bei den Klagen von Illinois, Minnesota und Ohio angezeigt und mit anderen Bundesstaaten hatte sich VW bereits Ende März auf Vergleiche geeinigt. Doch mit Alabama, Missouri, Montana, New Hampshire, Texas und Tennessee gibt es Klagen von sechs weiteren amerikanischen Staaten, die anderen Gerichten vorliegen. Hier scheint der Ausgang eher ungewiss (Quelle: ZEIT ONLINE, 1. September 2017).

Der Unterschied in der Verfolgung von Regelabweichungen und seine Folgen für die Umwelt

Worin liegt der Unterschied im öffentlichen Umgang mit den Abschalteinrichtungen in Europa und den USA? Hier lassen sich sicherlich viele Aspekte anführen, von den unterschiedlichen Rechtssystemen bis hin zu den dahinterstehenden politischen Interessenkonstellationen. Ich möchte nur einen Aspekt dieser komplexen Gemengelage hervorheben: Es gibt einen Zusammenhang zwischen defekter Regulierung seitens der Politik und der Normalität der Regelabweichungen in den Unternehmen. Wir sprechen immer dann von defekten Institutionen und Regulierungen, wenn es zwar Gesetze und Verordnungen wie die Abgasnormen gibt, diese aber entweder keine hinreichenden Standards setzen oder deren administrative Durchsetzung lückenhaft bzw. unzureichend gewährleistet ist. Dabei werden die betreffenden rechtstaatlichen Grundlagen nicht unterlaufen, aber der Zweck der Normierung wird weitgehend verfehlt. Der Schutz der Umwelt ist nur ein „nice to have“, das wurde in den vergangenen Monaten wiederholt sichtbar. Eine solch defekte Regulierung schafft meines Erachtens wichtige Voraussetzungen dafür, dass sich Formen devianter Selbstregulierung auf Ebene der Unternehmen verfestigen können. Genau dies ist in der Abgasaffäre geschehen. Defekte Institutionen sind in diesem Sinne funktional für die Aufrechterhaltung eines Systems, das systematisch und in legaler Weise die Zwecke der gesetzlichen Regulierung unterläuft.

Dieses Phänomen hat Lawrence Lessig als „institutionelle Korruption“ bezeichnet. Während die USA ihre strikteren Gesetze in diesem Fall zügig durchsetzen, bleibt der Umweltschutz in Deutschland und Europa auf der Strecke. So tauchten dann auch, laut eines Berichts im Nachrichten-Magazin „Der SPIEGEL“, die von Porsche in den USA vom Markt genommenen Geländewagen in Deutschland wieder auf – natürlich leicht umgerüstet und mit einem Software-Update versehen. Andere Länder, andere Wege, die Umwelt zu verschmutzen. Denn das von der Kanzlerin verordnete Software-Update behebt die Problematik des zu hohen Stickstoffausstoßes im Grunde nicht. Es handelt sich in erster Linie um eine formale, auf die Zulassung der Fahrzeuge bezogene Regelung, welche den Umweltschutz in dieser Branche weiterhin defekt reguliert. Und das ist im Falle des Umweltschutzes leider keine Seltenheit: Viele Studien zeigen, dass die Bedeutung von Umweltdelikten in Gerichtsverfahren oft zu Gunsten der Anklagten heruntergespielt wird und die nationalen Strafverfolgungsbehörden solchen Straftaten nur einen geringen Stellenwert einräumen.

Kick it like Merkel – das heißt einmal mehr: Vorfahrt für die Autoindustrie, und wir Autofahrer werden es dieser vermutlich nicht selten mit einem Kauf ihrer preisgünstigen Neuwagen danken.

 

Quellen

Europäische Union 2007: Art. 5, Abs. 2, Satz 2 der Emissions-Basis-Verordnung [abrufbar unter http://eur-lex.europa.eu/legal-content/de/TXT/?uri=CELEX%3A32007R0715]

Bericht der Untersuchungskommission „Volkswagen“ des BMVI 2016 [abrufbar unter https://www.bmvi.de/SharedDocs/DE/Anlage/VerkehrUndMobilitaet/Strasse/bericht-untersuchungskommission-volkswagen.pdf?__blob=publicationFile]

Deutschlandfunk, 31. Juli 2017 "Elektroautos. Gut für die Stadtluft, schlecht für die Umwelt?" abrufbar unter: [http://www.deutschlandfunk.de/elektroautos-gut-fuer-die-stadtluft-schlecht-fuer-die-umwelt.697.de.html?dram:article_id=392370]

ZEIT ONLINE, 01. September 2017 „US-Richter weist Klage gegen VW ab" [abrufbar unter: http://www.zeit.de/wirtschaft/2017-09/usa-volkswagen-diesel-rechtsstreit-wyoming]